Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
vor?
Rhymes Nackenmuskeln waren dermaßen angespannt, dass er fast einen Krampf bekam. Grübelnd starrte er ins Leere und ließ das Rätsel Revue passieren:
Hobbs Wentworth, der Attentäter, war tot und Grady samt seiner Familie in Sicherheit. Constable hatte eindeutig damit gerechnet, aus dem Verhörraum des Untersuchungsgefängnisses befreit zu werden, aber Weir hatte keine entsprechende Anstrengung unternommen. Demnach
schien
es so, als würde Weirs Plan fehlschlagen.
Doch mit dieser offensichtlichen Schlussfolgerung gab Rhyme sich nicht zufrieden. Durch den vermeintlichen Anschlag auf Christine Grady war ihre Aufmerksamkeit von der »Gruft« abgelenkt worden, und Rhyme neigte inzwischen zu Bells Vermutung, dass es bald einen neuen Vorstoß zur Befreiung Constables geben würde.
Oder ging es um etwas anderes – zum Beispiel um den Versuch, Constable zu
ermorden
, damit er nicht aussagen konnte?
Dieses frustrierende Gefühl war kaum zu ertragen. Rhyme hatte schon vor langer Zeit akzeptiert, dass er in seinem Zustand niemals in der Lage sein würde, einen Täter im physischen Sinne zu ergreifen. Doch zum Ausgleich besaß er einen überaus kraftvollen, scharfen Verstand, so dass er reglos vom Rollstuhl oder Bett aus die gesuchten Verbrecher wenigstens mental bezwingen konnte.
Nur bei Erick Weir, dem Hexer, wollte es ihm einfach nicht gelingen. Dieser Mann war die Irreführung in Person.
Rhyme überlegte, ob es gegenwärtig noch etwas zu erledigen gab, das ihnen weitergeholfen hätte.
Sachs, Sellitto und die ESU suchten die beiden Justizgebäude ab. Kara wartete beim Cirque Fantastique auf Kadesky. Thom telefonierte mit Keating und Loesser, den einstigen Assistenten des Täters, um herauszufinden, ob der Mann während des heutigen Tages Kontakt mit ihnen aufgenommen hatte oder ob ihnen womöglich noch etwas Hilfreiches eingefallen war. Das FBI hatte als Unterstützung eine Einheit zur Spurenauswertung geschickt, die sich soeben das Bürogebäude vornahm, in dem der tote Hobbs Wentworth lag, und die Techniker in Washington waren immer noch mit der Analyse der Fasern und des Kunstbluts beschäftigt.
Was konnte Rhyme darüber hinaus tun, um Weir auf die Schliche zu kommen?
Nur eines. Er beschloss, etwas zu versuchen, das er schon seit Jahren nicht mehr gemacht hatte.
Rhyme fing höchstpersönlich an, einige Gitternetze abzuschreiten. Die Suche begann im Gefängnis am blutigen Schauplatz der Flucht und führte ihn durch gewundene Korridore, die gespenstisch grün leuchteten. Um Mauerecken, von denen ganze Stücke abgesplittert waren, weil sie im Laufe der Jahre immer wieder von unzähligen Paletten und Handwagen gerammt wurden. In Abstellkammern und Heizungsräume. Alles bei dem Versuch, sich auf die Spur – und in den Kopf – von Erick Weir zu begeben.
Natürlich fand diese Suche mit geschlossenen Augen und lediglich in Gedanken statt. Dennoch schien es ihm irgendwie angemessen, eine rein imaginäre Verfolgung aufzunehmen; immerhin hatte der Gesuchte sich plötzlich in Luft aufgelöst.
Die Ampel sprang auf Grün, und Malerick beschleunigte langsam.
Er dachte an Andrew Constable, der in gewisser Weise ebenfalls ein Hexer war, wenn man Jeddy Barnes glauben durfte. Wie ein Hellseher vermochte Constable einen Menschen binnen weniger Sekunden einzuschätzen und sich daraufhin so zu verhalten, dass eine gelöste Stimmung entstand. Er war witzig, intelligent, verständnisvoll. Schien vernünftig, wirkte sympathisch.
Sagte den Leichtgläubigen, was sie hören wollten.
Und Leichtgläubige gab es stets genug. Man hätte eigentlich annehmen dürfen, dass niemand auf den Schwachsinn hereinfallen würde, den Gruppen wie die Gesellschaft der Patrioten absonderten. Doch wie hatte es P. T. Barnum, der große Impresario aus Malericks Branche, so treffend formuliert: Es wurde jede Minute ein neuer Idiot geboren.
Während Malerick sich nun im abendlichen Verkehr treiben ließ, stellte er sich amüsiert vor, wie verwirrt Constable zurzeit sein musste. Zu dem Fluchtplan hatte gehört, dass der Häftling seinen Anwalt außer Gefecht setzte. Vor zwei Wochen, in dem Restaurant in Bedford Junction, hatte Jeddy Barnes zu ihm gesagt: »Wissen Sie, Mr. Weir, dieser Roth ist Jude. Andrew wird ihm liebend gern eine verpassen.«
»Das ist mir egal«, hatte Malerick erwidert. »Von mir aus kann er ihn töten. Es spielt für meinen Plan keine Rolle. Hauptsache, der Anwalt kann uns nicht in die Quere kommen.«
Barnes hatte genickt.
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