Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
Miniaturabbilder der Deckenleuchten. Für einen flüchtigen Augenblick flammte Eifersucht in Amelia auf – weil die Nägel so makellos waren und die Frau genug Selbstbeherrschung besaß, sie nicht zu verunstalten –, doch sie hatte sich sofort wieder unter Kontrolle.
»Können Sie sich etwas unter dem Begriff ›Illusionist‹ vorstellen?«, fragte Kara.
»David Copperfield«, antwortete Sachs und zuckte die Achseln. »Houdini.«
»Copperfield ja, Houdini nein – der war Entfesselungskünstler. Nun, das Illusionistenhandwerk ist etwas anderes als die üblichen Taschenspielertricks, also als so etwas zum Beispiel…« Kara hielt den Vierteldollar hoch, den sie gerade erst als Wechselgeld erhalten hatte, schloss kurz die Hand und öffnete sie wieder. Die Münze war weg.
Sachs lachte. Wo, zum Teufel, hatte Kara das Geldstück gelassen?
»Das war ein typisches Taschenspielerkunststück. Bei den Illusionisten geht es um größere Objekte, Menschen oder Tiere. Was Sie mir eben beschrieben haben – die Flucht des Mörders –, ist ein klassischer Illusionistentrick. Er heißt
Der Verschwundene
.«
»Reden Sie weiter.«
»Der Ablauf ist normalerweise etwas anders als bei Ihrem Täter, aber im Grunde geht es darum, wie man aus einem geschlossenen Raum entkommt. Das Publikum verfolgt, wie der Illusionist auf der Bühne eine kleine Kammer betritt, deren Rückseite man ebenfalls sehen kann, weil dahinter ein großer Spiegel aufgestellt ist. Es hört ihn von innen an die Wände hämmern. Die Assistenten klappen die Seiten herunter, und der Mann ist nicht mehr da. Dann dreht einer der Assistenten sich um, und o Wunder: Es ist der Illusionist.«
»Wie funktioniert das?«
»Die Rückseite der Kammer hat einen Ausgang. Der Illusionist verbirgt sich unter einem großen Stück schwarzer Seide, so dass die Zuschauer ihn nicht im Spiegel erkennen können, und schlüpft sofort wieder nach draußen. In einer der Wände befindet sich ein Lautsprecher, aus dem die Stimme des Mannes ertönt, als wäre er noch im Innern, sowie eine kleine Apparatur, die für die nötigen Klopfgeräusche sorgt. Sobald er draußen ist, legt der Illusionist hinter der Seide in Windeseile das Assistentenkostüm an.«
Sachs nickte. »Stimmt, so ist es abgelaufen. Könnte man eine kurze Liste all jener Leute bekommen, die diesen Trick kennen?«
»Nein, tut mir Leid – der ist in unserer Branche nahezu Allgemeinwissen.«
Der Verschwundene…
Sachs fiel die blitzschnelle Verwandlung des Mörders in einen alten Mann ein, und sie dachte daran, wie abweisend Balzac gewesen war und wie kalt – mit nahezu sadistischem Blick – er Kara angesehen hatte. »Ich muss das leider fragen… Wo ist er heute Morgen gewesen?«
»Wer?«
»Mr. Balzac.«
»Hier. Ich meine, im Haus. Er wohnt dort, über dem Laden… Moment mal, Sie glauben doch nicht etwa, dass er mit der Sache zu tun hat?«
»Diese Fragen sind reine Routine«, stellte Sachs sachlich fest.
Die junge Frau wirkte jedoch eher amüsiert als aufgebracht. Sie lachte. »Hören Sie, ich weiß ja, dass er mürrisch ist und diese… diese aufbrausende Art an sich hat. Aber er würde keiner Fliege etwas zuleide tun.«
Sachs nickte, fragte aber weiter. »Wie dem auch sei, Sie wissen, wo er heute Morgen um acht Uhr war?«
Kara nickte. »Ja, er war im Laden. Er ist früher aufgestanden, weil einer seiner Freunde irgendwo in der Stadt eine Vorstellung gibt und sich ein paar Sachen leihen wollte. Ich habe ihn heute früh angerufen, um Bescheid zu sagen, dass ich mich verspäten würde.«
Sachs nickte erneut und hielt kurz inne. »Können Sie sich eine Weile freinehmen?«, fragte sie dann.
»Ich? Nein, auf gar keinen Fall.« Sie lachte gekünstelt auf. »Ich hatte schon Glück, dass ich mich jetzt kurz rausschleichen konnte. Es gibt im Laden noch tausend Dinge zu erledigen. Dann muss ich mit David drei oder vier Stunden proben, weil ich morgen einen Auftritt habe. Am Tag vor einer Show gönnt er mir keine Ruhe. Ich…«
Sachs sah ihr tief in die strahlend blauen Augen. »Wir haben wirklich große Angst, dass dieser Mann noch jemanden umbringt.«
Karas Blick wanderte über den klebrigen Mahagonitresen.
»Bitte. Nur für ein paar Stunden. Sehen Sie sich zusammen mit uns die Beweisstücke an. Vielleicht fällt Ihnen etwas dazu ein.«
»Er wird mich nicht lassen. Sie wissen nicht, wie David ist.«
»Aber ich
weiß
, dass ich keinen weiteren Mord zulassen werde, falls ich es irgendwie verhindern kann.«
Kara
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