Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
trank aus und spielte geistesabwesend mit der Tasse. »Er benutzt unsere Tricks, um Menschen zu töten«, flüsterte sie entsetzt.
Sachs sagte nichts dazu, sondern setzte auf die nachdrückliche Wirkung der Stille.
Schließlich verzog die junge Frau das Gesicht. »Meine Mutter lebt in einem Pflegeheim und war dort schon häufig auf der Krankenstation. Mr. Balzac weiß das. Ich schätze, ich könnte ihm vormachen, dass ich nach ihr sehen muss.«
»Wir wüssten Ihre Hilfe sehr zu schätzen.«
»Oh-oh. Die kranke Mutter als Ausrede… Das wird Gott mir nicht so einfach durchgehen lassen.«
Sachs sah abermals auf Karas perfekte schwarze Fingernägel. »Ach ja, eines noch: Wo ist dieser Vierteldollar geblieben?«
»Schauen Sie unter Ihrer Kaffeetasse nach«, erwiderte das Mädchen.
»Unmöglich.«
Sachs hob die Tasse an. Da lag die Münze.
»Wie haben Sie das denn fertig gebracht?«
Kara lächelte lediglich geheimnisvoll und deutete auf die Tassen. »Lassen Sie uns zwei Becher Kaffee mitnehmen.« Sie nahm das Geldstück. »Bei Kopf zahlen Sie, bei Zahl ich. Wer zuerst zwei Treffer hat.« Sie warf die Münze in die Luft.
Sachs nickte. »Einverstanden.«
Die junge Frau fing das Geldstück auf, sah auf die gewölbte Handfläche und hob den Kopf. »Wer zuerst zwei Treffer hat, richtig?«
»Richtig.«
Kara hielt ihr die Hand entgegen. Darauf lagen zwei Zehncentstücke und ein Fünfcentstück, Erstere mit der Kopfprägung nach oben. Der Vierteldollar war verschwunden. »Ich würde sagen, die Runde geht auf Ihre Rechnung.«
…Acht
»Lincoln, das ist Kara.«
Die junge Frau war vorgewarnt, das sah Rhyme ihr an, aber sie riss dennoch überrascht die Augen auf und bedachte ihn mit dem
Blick
, den er so gut kannte, begleitet von dem
Lächeln
.
Es war der berühmte Starr-seinen-Körper-nicht-an-Blick, verbunden mit dem Ach-Sie-sind-behindert-das-ist-mir-gar-nicht-aufgefallen-Lächeln.
Und Rhyme wusste, dass sie nun insgeheim die Minuten abzählen würde, bis sie endlich wieder die Flucht ergreifen könnte.
Die elfenhafte junge Frau betrat das Arbeitszimmer in Rhymes Haus. »Hallo. Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Sie schaute ihm unverwandt in die Augen. Immerhin beugte sie sich nicht unwillkürlich ein winziges Stück vor, was bedeutet hätte, dass sie ihm eigentlich die Hand geben wollte und die Bewegung vor lauter Schreck über den Fauxpas sofort im Keim erstickte.
Okay, Kara. Keine Angst. Lass den Krüppel einfach deine Meinung hören, und dann darfst du gleich wieder abhauen.
Er schenkte ihr ein oberflächliches Lächeln, das Fältchen für Fältchen dem ihren glich, und betonte, wie sehr auch er sich freue, ihre Bekanntschaft zu machen.
Was zumindest auf professioneller Ebene durchaus nicht gehässig gemeint war, denn außer Kara hatten sie keinen einzigen Zauberkünstler auftreiben können. Niemand aus den anderen Fachgeschäften der Stadt war ihnen eine große Hilfe gewesen – und für die Mordzeit besaßen alle ein Alibi.
Sachs stellte der jungen Frau Lon Sellitto und Mel Cooper vor. Thom nickte ihr zu und tat dann, was er immer tat, ob es Rhyme nun gefiel oder nicht: Er bot eine Erfrischung an.
»Wir sind hier nicht beim Plauderkreis der Kirchengemeinde, Thom«, murmelte Rhyme.
Kara sagte, es sei schon in Ordnung, aber Thom ließ sich nicht beirren.
»Vielleicht einen Kaffee?«, fragte sie.
»Kommt sofort.«
»Schwarz. Mit Zucker. Viel Zucker, falls möglich.«
»Wir sind wirklich…«, setzte Rhyme an.
»Für alle hier im Raum«, verkündete Thom. »Ich koche gleich eine ganze Kanne und hole uns ein paar Bagels.«
»Bagels?«, fragte Sellitto.
»Wenn du ein Restaurant eröffnen willst, dann gefälligst in deiner Freizeit«, herrschte Rhyme den Betreuer an. »Gewöhn dir das ab.«
»Was ist das – Freizeit?«, gab der adrette blonde Mann schlagfertig zurück und ging in die Küche.
»Officer Sachs hat erzählt, Sie könnten uns womöglich behilflich sein«, wandte Rhyme sich an Kara.
»Hoffentlich.« Sie schaute ihm abermals prüfend ins Gesicht. Wieder der
Blick
, diesmal aus der Nähe. Oh, um Gottes willen,
sag
doch was. Frag mich, wie es geschehen ist. Frag mich, ob es wehtut. Frag mich, wie es ist, durch einen Katheter zu pinkeln.
»He, wie wollen wir ihn nennen?« Sellitto wies auf die Tafel. Wenn die Identität eines Verdächtigen unbekannt war, erhielt er von der Polizei häufig einen Spitznamen. »Wie wär’s mit ›Zauberkünstler‹?«
»Nein, das klingt zu lasch«, sagte
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