Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
unterschied sich deutlich von jenem triumphalen Auftritt. Im Verlauf der letzten anderthalb Jahre hatte Kara bisweilen den Eindruck gehabt, ihr sei jegliches Talent abhanden gekommen, doch immer wenn sie kurz vor dem Aufgeben stand, nickte Balzac oder deutete ein Lächeln an. Einige Male hatte er sie sogar ausdrücklich gelobt.
In solchen Momenten war ihre Welt in Ordnung.
Für ein Privatleben blieb allerdings so gut wie keine Zeit mehr, denn Kara hielt sich immer häufiger im Laden auf, führte die Bücher und das Inventar, sorgte für die Begleichung der Rechnungen und betreute die Internetseite des Geschäfts. Da Balzac ihr nur wenig zahlte, benötigte sie zusätzliche Einkünfte und suchte sich Jobs, die zumindest am Rande mit ihrem Anglistik-Abschluss zu tun hatten: Sie verfasste Artikel für andere Zauber- und Theaterseiten im Internet. Vor rund einem Jahr hatte sich dann der Zustand ihrer Mutter verschlechtert. Seitdem brachte Kara, das Einzelkind, ihr letztes bisschen Freizeit im Pflegeheim zu.
Ein anstrengendes Leben.
Aber sie kam vorläufig damit zurecht. In ein paar Jahren würde Balzac sie für bühnenreif befinden und hinaus in die weite Welt entlassen, mitsamt seinem Segen
und
seinen erstklassigen Kontakten.
Lass nicht locker, Kleines, und lass dich bloß nicht unterkriegen, wie Jaynene es vielleicht ausdrücken würde.
Nun führte Kara also ein weiteres Mal Tarbells
Drei-Tuch-Trick
vor. Balzac klopfte achtlos die Asche seiner Zigarette ab und runzelte die Stirn. »Linker Zeigefinger ein kleines Stück höher.«
»Konnten Sie die Schleife sehen?«
»Falls ich sie nicht gesehen hätte, weshalb sollte ich dich dann wohl bitten, den Finger höher zu halten?«, fragte er verärgert. »Versuch’s noch mal.«
Wieder von vorn.
Den verdammten Zeigefinger ein verdammtes Stückchen höher.
Ssssst
… die ineinander verschlungenen Tücher lösten sich und flatterten wie Siegesflaggen empor.
»Ah«, sagte Balzac, begleitet von einem kaum wahrnehmbaren Nicken.
Es war keine allzu überschwängliche Gefühlsäußerung, aber Kara hatte gelernt, sich mit wenig zufrieden zu geben.
Sie legte die Utensilien beiseite und trat hinter den Tresen des voll gestopften Verkaufsraums, um die Waren der Freitagnachmittagslieferung einzubuchen.
Balzac kehrte an seinen Computer zurück und widmete sich wieder einem Artikel für die Internetseite des Ladens. Es ging um Jasper Maskelyne, den britischen Zauberkünstler und Gründer einer Spezialeinheit im Zweiten Weltkrieg, die in Nordafrika mit Illusionistentechniken gegen die deutschen Truppen gearbeitet hatte. Balzac schrieb vollständig aus dem Gedächtnis, ohne vorherige Aufzeichnungen oder Recherchen, was durchaus typisch für ihn war: profunde Kenntnisse, gepaart mit einem aufbrausenden und leidenschaftlichen Temperament.
»Haben Sie schon gehört, dass der Cirque Fantastique bei uns gastiert?«, rief Kara. »Heute Abend ist Premiere.«
Der alte Illusionist antwortete lediglich mit einem Brummen, denn er war soeben damit beschäftigt, statt der Brille Kontaktlinsen einzusetzen. Balzac wusste, wie überaus wichtig das äußere Erscheinungsbild eines Künstlers war, und bemühte sich stets, für sein Publikum und sogar für seine Kunden so gut wie möglich auszusehen.
»Gehen Sie hin?«, hakte Kara nach. »Ich denke, wir sollten uns das anschauen.«
Der Cirque Fantastique – ein Konkurrenzbetrieb zum älteren und größeren Cirque du Soleil – gehörte zu einer neuen Generation von Veranstaltungsunternehmen, die altvertraute Zirkusnummern, Theater in der Tradition der Commedia dell’Arte, zeitgenössische Musik- und Tanzdarbietungen, avantgardistische Performancekunst und Taschenspielertricks unter einem Dach vereinten.
David Balzac war ein Künstler der alten Schule: Las Vegas, Atlantic City,
The Late Show
. »Wieso etwas ändern, das funktioniert?«, murrte er häufig.
Kara hingegen liebte den Cirque Fantastique und war entschlossen, ihren Lehrer in eine der Vorstellungen mitzunehmen. Noch bevor sie versuchen konnte, ihn zu überreden, öffnete sich die Tür des Ladens. Eine attraktive rothaarige Polizistin kam herein und erkundigte sich nach dem Eigentümer.
»Das bin ich, David Balzac. Was kann ich für Sie tun?«
»Wir ermitteln in einem Fall«, erklärte die Beamtin. »Einer der Beteiligten scheint ein halbwegs geübter Zauberkünstler zu sein. Wir wenden uns nun an die einschlägigen Geschäfte in der Stadt und hoffen, dass Sie uns vielleicht helfen
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