Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
weit, so wie Rhyme es erwartet hatte. Der Geschäftsführer und die Bedienungen dort hatten keine Ahnung, um welche Gäste es sich gehandelt haben könnte.
»Bei denen ist immer ›mordsviel los‹«, berichtete Sellitto und verdrehte die Augen. »Das war ein Zitat.«
»Es gefällt mir nicht«, sagte Sachs.
»Was?«
»Wieso isst er mit drei anderen Leuten zu Mittag?«
»Guter Einwand«, sagte Bell. »Glauben Sie, er arbeitet mit jemandem zusammen?«
»Nein, bestimmt nicht«, warf Sellitto ein. »Wiederholungstäter sind fast immer Einzelgänger.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, gab Kara zu bedenken. »Taschenspieler und gewöhnliche Zauberkünstler – die arbeiten allein. Aber er ist Illusionist, vergessen Sie das nicht. Die benötigen für ihre Nummern stets auch andere Leute. Denken Sie an die Freiwilligen aus dem Publikum. Und an die Assistenten auf der Bühne, die offen vor den Zuschauern agieren. Darüber hinaus gibt es geheime Helfer. Das sind die Leute, die für den Illusionisten arbeiten,
ohne
dass das Publikum es weiß, und sie tarnen sich als Bühnenarbeiter, Zuschauer oder vermeintlich Freiwillige. In einer guten Show kann man nie ganz sicher sein, wer wer ist.«
Herrje, dachte Rhyme, mit seinen Verwandlungs-, Entfesselungs- und Illusionistenkünsten war dieser Täter allein schon schlimm genug. Falls er zudem über Assistenten verfügte, wurde er noch hundertmal gefährlicher.
»Schreib es auf, Thom«, rief er. »Und jetzt die Spuren aus der Gasse, in der Burke ihn erwischt hatte.«
Der erste Gegenstand waren die Handschellen des Beamten.
»Er ist sie innerhalb weniger Sekunden losgeworden, also hatte er einen Schlüssel«, sagte Sachs. Zum Entsetzen aller Polizisten ließen sich die meisten Handschellen mit einem Generalschlüssel öffnen, der in entsprechenden Fachgeschäften für wenige Dollars erhältlich war.
Rhyme fuhr mit dem Rollstuhl zum Tisch vor und besah sich die Handschellen aus der Nähe. »Dreh sie mal um… Halt sie hoch… Stimmt, er
könnte
einen Schlüssel benutzt haben, aber ich sehe hier am Schloss frische Kratzer. Ich würde sagen, es wurde mit einem Dietrich geöffnet…«
»Burke hat ihn mit Sicherheit gefilzt«, wandte Sachs ein. »Wo hatte er also den Dietrich versteckt?«
»Da gibt’s mehrere Möglichkeiten«, sagte Kara. »Zum Beispiel in seinen Haaren oder im Mund.«
»Mund?«, grübelte Rhyme. »Versuch’s mal mit dem UV-Licht, Mel.«
Cooper setzte den Ultraviolett-Verstärker auf. »Ja, hier sind winzige Schmierspuren und Tröpfchen rund um das Schlüsselloch.« Was ein deutlicher Hinweis auf Körperflüssigkeiten, vornehmlich Speichel, war.
»Houdini hat das ständig so gemacht«, sagte Kara. »Manchmal ließ er jemanden aus dem Publikum in seinem Mund nachsehen. Unmittelbar vor der Nummer küsste ihn dann seine Frau – um ihm Glück zu wünschen, behauptete er, doch in Wahrheit hat sie ihm auf diese Weise einen Schlüssel in den Mund geschoben.«
»Aber laut Vorschrift musste Burke ihm die Hände auf dem Rücken fesseln«, sagte Sellitto. »Wie konnte der Hexer den Mund überhaupt erreichen?«
»Oh«, sagte Kara lachend. »Jeder Entfesselungskünstler benötigt höchstens drei oder vier Sekunden, und schon befinden die Hände sich
vor
dem Körper.«
Cooper testete die Speichelspuren. Bei manchen Personen ließen sich in allen Körperflüssigkeiten Antikörper nachweisen, die eine Bestimmung der Blutgruppe erlaubten. Leider zählte der Hexer nicht dazu.
Sachs hatte zudem ein Stückchen Metall mit gezackter Kante gefunden.
»Ja, das stammt auch von ihm«, sagte Kara. »Ein weiteres typisches Hilfsmittel der Entfesselungskünstler. Eine kleine Säge. Damit hat er vermutlich die Fußfessel durchtrennt.«
»Und die Säge hatte er ebenfalls im Mund? Wäre das nicht viel zu gefährlich?«
»Oh, wir verstecken bei unseren Nummern häufig Nadeln oder Rasierklingen im Mund. Mit etwas Übung ist es relativ sicher.«
Die anderen in der Gasse gesicherten Spuren erbrachten auch diesmal wieder Latex- und Make-up-Reste sowie Rückstände des Lederpflegemittels Tack-Pure.
»Hast du etwas am Flussufer gefunden, wo der Wagen ins Wasser gestürzt ist, Sachs?«
»Nur die Reifenspuren im Schlamm.« Sie hängte die von Cooper ausgedruckten Digitalfotos an die Tafel. »Irgendein übereifriger Zivilist hat den Schauplatz auf den Kopf gestellt«, erklärte sie. »Aber ich habe den Dreck eine halbe Stunde lang durchwühlt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der
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