Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
Angehöriger heraufbeschworen. Als es noch keine Gesetze gegen derlei Scharlatane gab, waren es häufig die echten Zauberkünstler, die zum Schutz der Leichtgläubigen die Methoden der Betrüger öffentlich enttarnten. (Sogar heutzutage verwandte der hervorragende Illusionist James Randi einen beachtlichen Teil seiner Anstrengungen darauf, Schwindler zu entlarven.) Auch Harry Houdini setzte viel Zeit und Geld ein, um falsche Seher bloßzustellen. Ironischerweise tat er dies vornehmlich deshalb, weil er lange vergeblich nach einem echten Medium gesucht hatte, das in der Lage sein würde, mit dem Geist seiner Mutter in Verbindung zu treten, deren Tod er nie ganz verwinden konnte.
Malerick starrte nun auf die Kerze, beobachtete sie angestrengt und hoffte inständig, der seelenverwandte Geist möge erscheinen und die gelbe Flamme liebkosen, auf dass er ein Zeichen erhalte. Er benutzte die Kerze als Kommunikationsmittel, weil es ein Feuer gewesen war, das ihm das Liebste geraubt und sein Leben auf ewig verändert hatte.
Halt, war da ein Flackern? Vielleicht ja, vielleicht nein. Er konnte es nicht sagen.
In ihm rangen beide Zweige der Magie miteinander um die Vorherrschaft. Als begabter Illusionist wusste Malerick natürlich, dass seine Nummern nichts anderes waren als angewandte Physik, Chemie und Psychologie. Und trotzdem gab es diese eine kleine Ungewissheit in ihm, ob die Zauberei nicht womöglich
doch
den Schlüssel zum Reich des Übernatürlichen darstellte: Gott als Illusionist, der unsere anfälligen Leiber verschwinden ließ, die Seelen unserer Liebsten wegzauberte, verwandelte und zurückbrachte zu uns, seinem traurigen, hoffenden Publikum.
Es war nicht völlig undenkbar, glaubte Malerick. Er…
Und dann flackerte die Kerze! Ja, er sah es ganz genau.
Die Flamme bewegte sich einen Millimeter in Richtung des hölzernen Kästchens. Möglicherweise bedeutete dies, dass die Seele der geliebten Person nun neben ihm schwebte, herbeigerufen nicht durch irgendeine Technik, sondern dank einer unsichtbaren Verbindung, die mittels der Magie enthüllt werden könnte, sofern er nur empfänglich dafür blieb.
»Bist du da?«, flüsterte er. »Bist du’s?«
Er atmete unendlich langsam, weil er fürchtete, durch seinen Hauch die Flamme erzittern zu lassen. Malerick wollte einen eindeutigen Beweis, dass er nicht allein war.
Schließlich verlosch die Kerze von selbst. Malerick saß noch lange nachdenklich da und schaute dabei zu, wie der graue Rauch sich zur Decke hochringelte und verschwand.
Er sah auf die Uhr. Es blieb keine Zeit mehr. Er suchte die Kostüme und Utensilien zusammen, legte alles bereit, zog sich sorgfältig an und schminkte sich.
Der Spiegel verriet ihm, dass die neue Rolle perfekt saß.
Er ging zur Haustür und blickte durch die Scheibe. Die Straße war leer.
Dann trat er hinaus in den Frühlingsabend und brach zu seiner nächsten Nummer auf, die, jawohl, sogar noch
herausfordernder
sein würde als die bisherigen Auftritte.
Feuer und Illusion sind nah miteinander verwandt.
Gleißendes Blitzpulver, Kerzen, Propanflammen, über denen Entfesselungskünstler baumeln…
Feuer, verehrtes Publikum, ist ein Spielzeug des Teufels, und der Teufel ist seit jeher eng mit der Magie verknüpft. Feuer erhellt, und Feuer verbirgt, es zerstört und erschafft.
Feuer verwandelt.
Und es steht im Mittelpunkt unserer nächsten Nummer. Ich nenne sie
Der Eingeäscherte.
Die Neighborhood School lag unweit der Fünften Avenue in Greenwich Village und war in einem anheimelnden Kalksteingebäude untergebracht. Sie wirkte ebenso schlicht, wie sie hieß. Niemand wäre von selbst auf den Gedanken gekommen, dass hier die Kinder einiger der wohlhabendsten und politisch einflussreichsten Familien New Yorks lesen, schreiben und rechnen lernten.
Die Schule galt nicht nur als herausragendes Bildungsinstitut – sofern man bei einer Grundschule überhaupt davon sprechen konnte –, sondern wurde zudem für allerlei kulturelle Aktivitäten genutzt.
Zum Beispiel für Konzertabende, die stets samstags um zwanzig Uhr stattfanden.
Und zu deren heutigen Besuchern auch der Reverend Ralph Swensen zählen würde.
Er hatte seinen langen Spaziergang durch Chinatown und Little Italy bis nach Greenwich Village unbeschadet überstanden und war dabei bloß von einigen Bettlern angeschnorrt worden, welche er mittlerweile geflissentlich zu ignorieren verstand. In einem kleinen italienischen Restaurant hatte er einen Teller Spaghetti bestellt
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