Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
Nun wurde dem Reverend allmählich klar, dass Barnes nur deswegen für ihn eingetreten war, um ihn später unter Druck setzen zu können. »Bitte, versteh doch…«
»Clara hat einen hübschen Brief geschrieben, der sich zufällig in meinem Besitz befindet. Habe ich eigentlich je erwähnt, dass ich sie damals darum gebeten habe? Wie dem auch sei, sie hat deinen Schwanz detaillierter beschrieben, als es mich persönlich interessiert, aber die Geschworenen wären bestimmt begeistert.«
»Das darfst du nicht. Nein, nein, nein…«
»Ich will mich nicht lange mit dir herumstreiten, Ralph. Du hast die Wahl. Falls du dich
weigerst
, wirst du schon nächsten Monat im Knast sitzen und für die Nigger dort das Gleiche tun, was Clara Sampson für dich tun musste. Also, wie lautet deine Entscheidung?«
»Scheiße.«
»Ich nehme an, das heißt Ja. So, und nun werde ich dir den Plan erläutern.«
Dann hatte Barnes ihm eine Waffe gegeben, ihm die Adresse eines Hotels und die Anschrift von Gradys Büro genannt und ihn schließlich auf die Reise geschickt.
Nach seiner Ankunft vor einigen Tagen hatte Reverend Swensen zunächst Erkundigungen eingezogen. Am späten Donnerstagnachmittag war er in seiner Amtstracht in das Regierungsgebäude marschiert und dank seiner harmlos wirkenden Art ungehindert durch die Flure gewandert, bis er in einem abgelegenen Gang eine Besenkammer fand und sich dort bis Mitternacht versteckte. Dann war er in Gradys Vorzimmer eingebrochen und hatte herausgefunden, dass der Staatsanwalt und seine Familie das heutige Konzert in der Neighborhood School besuchen würden; seine Tochter zählte zu den jungen Musikern.
Und nun stand der Reverend bewaffnet und hochgradig nervös vor der Schule und beobachtete ungeduldig, wie der Leibwächter mit dem Staatsanwalt auf der Rückbank der Limousine sprach. Wenn alles planmäßig verlief, würde er Grady und seine Begleiter mit der schallgedämpften Pistole erschießen, sich zu Boden werfen und lauthals schreien, ein Mann sei soeben vorbeigefahren und habe aus dem Wagen das Feuer eröffnet. In dem folgenden Durcheinander müsste dem Geistlichen dann die Flucht gelingen.
Müsste…
Er wollte ein Gebet sprechen, aber obwohl Charles Grady ein Werkzeug des Bösen war, brachte Reverend Swensen es nicht fertig, Gott um Beistand für den Mord an einem unbewaffneten weißen Christen zu bitten. Er begnügte sich stattdessen mit einer stummen Bibelrezitation.
Und danach sah ich einen andern Engel niederfahren vom Himmel, der hatte große Macht, und die Erde ward erleuchtet von seinem Glanz…
Reverend Swensen verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und konnte es kaum noch abwarten. Diese Anspannung, diese Anspannung… Er wollte zurück zu seinen Schafen, seinem Ackerland, seiner Kirche, seinen allseits beliebten Predigten.
Und zu Clara Sampson, die inzwischen fast fünfzehn und somit in jeder Hinsicht verfügbar war.
Und der Engel schrie mit lauter Stimme und sprach: Babylon die Große ist gefallen und eine Behausung der Teufel geworden und ein Gefängnis aller unreinen Geister…
Er musste an Gradys Familie denken. Die Frau des Staatsanwalts hatte nichts Unrechtes getan. Mit einem Sünder verheiratet zu sein, war nicht dasselbe wie selbst ein Sünder zu sein oder freiwillig für einen Sünder zu arbeiten. Nein, er würde Mrs. Grady verschonen.
Solange sie nicht sah, dass er der Schütze war.
Und was Chrissy, die Tochter, anbetraf, von der Barnes ihm erzählt hatte… Er fragte sich, wie alt sie wohl war und wie sie aussah.
Und das Obst, daran deine Seele Lust hatte, ist dahin; und alles, was glänzend und herrlich war, ist von dir gewichen, und nimmermehr wirst du es finden…
Jetzt, dachte er. Na los. Komm schon, komm schon, komm schon.
Und ein starker Engel hob einen Stein auf wie einen großen Mühlstein, warf ihn ins Meer und sprach: So wird im Sturm verworfen die große Stadt Babylon und nicht mehr gefunden werden…
Tja, Grady,
mein
Stein der Vergeltung ist eine präzise Waffe aus deutscher Fertigung, und der Überbringer der Botschaft ist kein Engel vom Himmel, sondern ein Vertreter aller rechtgläubigen Menschen in Amerika.
Er ging los.
Die Leibwächter schenkten ihm weiterhin keine Beachtung.
Er öffnete den Aktenkoffer und nahm den Stadtplan heraus, in dessen Falten die schwere Waffe steckte. Wie zufällig schlenderte er in Richtung des Wagens. Gradys Leibwächter standen nun nebeneinander auf dem Bürgersteig und wandten ihm den
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