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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Aufgrund der Dinge, die sich ereigneten, waren mir die Gesichter der Menschen einfach zuwider. Aber auch in diesen Gefilden habe ich keine völlige Abgeschiedenheit finden können! In den Jahren meiner Wanderungen, als ich das Geheimnis begreifen wollte, das als Mensch bezeichnet wird, habe ich an der Universität von Padua Medizin studiert. Dem Geheimnis bin ich natürlich nicht auf die Spur gekommen, denn es ist nicht im Mechanismus unseres Körpers beschlossen, aber die ärztliche Kunst habe ich gelernt. Vor zwei Jahren habe ich einmal aus Dummheit einem Einheimischen, der in besoffenem Zustand unter das eigene Fuhrwerk geraten war, die Knochen wieder eingerenkt. Seitdem habe ich keine Ruhe mehr. Kranke und Verkrüppelte machen sich auf den Weg zu mir, und ich heile sie alle aus Dummheit und Schwachheit. Und da ich kein Geld dafür nehme, haben sich die hiesigen Bewohner in den Kopf gesetzt, ich sei ein Gerechter und heiliger Mönch. Sie kommen, gaffen, verbreiten Lügen über mich und bringen Essen, das ich nicht brauche. Pilze mit Beeren und Gräser reichen zur Ernährung völlig aus.«
    Der einstige Kammersekretär und Reisende und jetzige Arzt spuckte erzürnt aus, richtete mit den Fingern den Docht seiner ungewöhnlich hellen Kerze, die von der Berührung noch stärker aufloderte. Mitja fiel auf, dass das Wachs während des ganzen Gesprächs nicht ein einziges Mal tropfte.
    »Das habe ich herausgefunden«, erklärte Daniel, der den Blick seines kleinen Gastes auffing. »Ich mische unter das Bienenwachs einen Extrakt aus Löwenzahn und einigen anderen Pflanzen, dann brennt die Kerze eine ganze Nacht und einen weiteren halben Tag, und sie verbreitet so viel Licht wie ein ganzer Kronleuchter. Es gibt nur einen Haken, der es verhindert, dass dieser Leuchter überall gebraucht wird: Wenn der Docht ganz abgebrannt ist, dringen die angehäuften Ausdünstungen nach draußen, und es gibt einen explosionsartigen Knall. Ich lasse die Kerze deshalb nie ganz abbrennen und übergieße sie mit einer besonderen Lösung.« Er zeigte auf ein Fläschchen mit einer weißlichen Flüssigkeit und schwieg.
    Dann lachte er verlegen und hob ratlos die Hände.
    »Da hab ich mich also mit meinem Gerede auf Euch gestürzt, wie einer nach dem Fasten über Fleisch herfällt. Erzählt Ihr mir nun, was Euch so mutterseelenallein und dann auch noch nachts in den Wald geführt hat. Schließlich gibt es hier sogar Wölfe.«
    Daniels Gesicht verdüsterte sich auf einmal.
    »Moment! Habt Ihr nicht am Anfang etwas von Verbrechern und einer edlen Person gesagt, die befreit werden muss? Ich habe den Sinn der Worte nicht richtig wahrgenommen, weil ich so von Eurer sprachlichen Gewandtheit beeindruckt war. Verzeiht mir um des Verstandes willen! Oh, wie oberflächlich und hartherzig ich bin! Euch ist ein Unglück widerfahren?«
    Es war also richtig, dass er ihn hatte ausreden lassen, sagte sich Mitja. Er würde jetzt aufmerksamer zuhören und wohlwollender reagieren.
    »Ja, ja!«, sagte Mithridates, der mit jedem Wort aufgeregter wurde. »Es ist ein entsetzliches Unglück geschehen, ein gemeines Verbrechen! Ich war unterwegs von Sankt Petersburg nach Moskau, um eine Dame zu begleiten, die höchste Ehrerbietung verdient. Nicht nur wegen ihres Adels – Pawlina Anikitischna stammt in der Tat aus einer der vornehmsten Familien des Reiches –, sondern vor allem wegen ihrer einzigartigen Qualitäten. Das Unglück will es, dass sie von einer seltenen Schönheit ist, die . . .«
    »Moment!« Der Alte hob die Hand. »Mein junger Freund, Eurer Aufregung entnehme ich, dass Ihr von etwas höchst Wichtigem erzählt, aber die Worte kommen mit einem Eifer von Euren Lippen, dass ich nicht folgen kann und nur die Hälfte verstehe. Erbarmt Euch derer, die nicht wie Ihr über solch eine außerordentliche Wendigkeit von Sprache und Geist verfügen, denn . . .«
    Mitja wurde klar, dass er mal wieder – eine schlechte Angewohnheit von ihm – die Worte verschluckt hatte. Aber Daniel äußerte sich so langatmig und altmodisch geschraubt, dass er ihn unterbrechen musste.
    »Schon gut, schon gut!«, pflichtete ihm Mitja bei, winkte ungeduldig mit der Hand ab und gab sich Mühe, die Worte langsamer auszusprechen. Das war auch besser so, denn er musste ja gleichzeitig auch noch überlegen, was er sagen und was er besser verschweigen sollte.
    So zum Beispiel musste der Name des durchlauchtigsten Fürsten Surow nicht unbedingt genannt werden. Wer würde schon den Mut

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