Der Favorit der Zarin
dringende . . .«
»Er ist gestorben, der Arme«, sagte der Alte seufzend und hing traurig nickend seinen Erinnerungen nach. »An Hirnfieber. Er hat noch nicht einmal seinen vierzehnten Geburtstag erlebt. Was für ein Talent hätte da heranwachsen können, wie viel Nutzen hätte er seinem Vaterland, ja vielleicht sogar dem ganzen Menschengeschlecht bringen können!«
Mitja wollte die Pause nutzen, um den Mund zu öffnen und etwas von Pikins Verbrechen und der verzweifelten Situation von Pawlina Chawronskaja zu erzählen, aber Daniel fing wieder an zu reden:
»Schade, dass ich nicht an der Universität geblieben bin und mich schon in jungen Jahren der Wissenschaft gewidmet habe. Wie viel Zeit habe ich sinnlos vertan! Schrecklich! Mein Vater hatte mich seit meiner Geburt für das Semjonow-Regiment bestimmt und duldete mein Studium nur bis zu dem Zeitpunkt, da sich bei Hof eine Vakanz für mich bot.«
Erst da bemerkte er auf einmal, dass er seinen Gast überhaupt nicht zu Wort kommen ließ. Er lächelte schuldbewusst. Das Lächeln dieses Arztes wider Willen (zu dem er sich selbst ernannt hatte) war weich, sympathisch.
»Ich bitte ergebenst um Verzeihung, dass ich ohne Unterlass rede. Ich bin hier ein wenig verwildert, ich bin eine gebildete Unterhaltung einfach nicht mehr gewohnt. Mich besuchen hier allenfalls die hiesigen Dorfbewohner, und worüber soll man sich mit denen unterhalten? Seid so gut, mein lieber Herr Karpow, und seht mir meinen Wortreichtum eine kleine Weile nach. Ich werde mich bald ausgesprochen haben und dann schweigen.«
Tja, dachte Mitja, das wird wirklich vernünftiger sein. Denn es ist ja bekannt, dass ein Mensch, der sich nicht ausgesprochen hat, auch weniger aufmerksam zuhört. Die Schlittenkutsche würde bis zum Morgen nicht vom Fleck kommen, es war also genug Zeit.
»Und was für eine Vakanz fand Ihr Herr Vater für Euch bei Hof?«, fragte Mitja, der davon ja etwas verstand. »Danke.«
Letzteres bezog sich auf die angebotene Bewirtung – der Hausherr schenkte aus einem Kessel duftendes Apfelgebräu ein, rückte Brot und einen Korb mit Honig heran. Oh, da stellte sich heraus, was für einen Mordshunger er doch hatte nach all dem Gefriere und dem Schrecken!
Daniel setzte sich ihm gegenüber, brach sich ein Stückchen von dem Brotlaib ab, führte es aber nicht zum Mund.
»Die Stelle war für die damalige Zeit nicht gerade ein Geschenk: Briefschreiber bei der Großfürstin Katharina Alexejewna. Letztere galt bei Hof als eine unbedeutende, um nicht zu sagen, aufgrund ihres Gatten bedauernswerte Person. Erst später sollten alle erfahren, was für eine Manneskraft in Catherine Le Grand steckte.«
»Voltaire hat sie so genannt, nicht wahr?«, beeilte sich Mitja zu bemerken. Er musste ja dem gelehrten Mann zeigen, dass er nicht nur »gehaltvoll und gewandt zu sprechen« verstand, sondern auch die großen Zeitgenossen hochhielt.
»Ja, so hat sich der alte Schmeichler wörtlich ausgedrückt. Er dachte, der Adressat seiner Briefe sei das weiseste aller Weiber. In Wirklichkeit habe ich die Briefe verfasst, denn Katharina beherrschte das schriftliche Französisch nicht besonders gut und hatte wenig eigene Gedanken. Ich war eben damals ihr Kammersekretär.« Er sagte das und war verlegen; offenbar dachte er, seine Worte klängen angeberisch. »Ach, mein Freund, Kammersekretär, das ist kein besonders bedeutendes Amt und steht nicht in hohen Ehren. Obwohl viele der Meinung sind, beim Monarchen ein Amt zu haben, sei schon an und für sich die höchste Ehre. Diese unglückseligen Falter! Wie viele sich an den Zungen dieser falschen Flamme die Flügel, ja schlimmer noch die Seelen verbrannt haben! Wenn Ihr Katharina einmal aus der Nähe säht, es wäre für Euch mit Eurem Verstand und Eurem Scharfblick kein Problem, sie von Grund auf zu durchschauen. Sie ist keine dumme, aber auch keine kluge, keine bösartige, aber auch keine gütige Frau, deren einziges Talent in einem untrüglichen Riecher besteht. Sie errät die Erwartungen der aktiven Fraktion, noch bevor dieser Teil der Gesellschaft selber eine Ahnung von ihnen hat. Das ist die wahre Kunst eines von Natur begabten Herrschers.«
Dass er die Kaiserin aus geringerer Nähe als jeder Kammersekretär gesehen hatte, verschwieg Mitja vorsichtig, und ob der geäußerten Überzeugung von seinem Scharfsinn senkte er bescheiden den Kopf, aber das letzte Urteil des wunderlichen Arztes ließ ihn die Stirn runzeln.
»Wirklich?«, fragte er. »Meint Ihr,
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