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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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mit einer ungewöhnlich grellen, nicht flackernden Flamme.
    So lebte der Erlkönig also. Vielleicht war er doch nicht so schrecklich, wie Malascha ihn dargestellt hatte?
    Der Gebieter über den Wald zog Mitja den Pelz aus, er wollte ihm auch die Filzstiefel ausziehen, aber Mitja kreischte auf:
    »Au! Das tut weh!«
    »Aha, du kannst also sprechen! Gut, wir unterhalten uns später.«
    Der Hausherr ließ Mitja auf der Bank Platz nehmen, zog ein kleines Messer aus dem Stiefel und schnitt den Filzstiefel auf. Er hatte hagere, lange Finger mit kurz geschnittenen Fingernägeln.
    Er tastete vorsichtig den Knöchel ab.
    »Alles klar. Na, beiß da rein!« Er steckte ihm einen Zwiebackkringel zwischen die Zähne. »Schlag deine Zähne mit aller Kraft rein!«
    Und dann zog er an dem Fuß! Mitja biss den steinharten Kringel in der Mitte durch, und Tränen schossen ihm aus den Augen.
    Aber der Alte verband den Fuß schon mit einem Lappen, und der Schmerz ließ nach.
    »Steh mal auf.«
    Mitja konnte es noch nicht glauben und stand vorsichtig auf. Der Fuß hielt ihn!
    »Morgen wirst du noch ein wenig humpeln, aber übermorgen wirst du schon den Berg runterflitzen. Eine Lappalie, eine ganz ordinäre Verstauchung: Luxatio«, sagte der Alte.
    Er war natürlich kein Erlkönig; von der Kälte und vor Angst war Mitja ein solcher Unsinn in den Kopf gekommen, jetzt schämte er sich selber dafür, aber ein lateinisches Wort aus dem Munde des Wunderheilers zu hören, war wirklich seltsam. Ein gebildeter Mann, ein belesener Gelehrter, und da lebt er allein, im wilden Wald! Wenn das nicht seltsam war!
    Mitja rief aus:
    »Gnädiger Herr! Ihr müsst mir vom Himmel geschickt worden sein! Ich sehe, Ihr seid tugendhaft und barmherzig! Helft mir, eine edle Person aus den Händen von Verbrechern zu befreien. Aber vorher mag es mir erlaubt sein zu fragen, wer Ihr seid und warum Ihr hier in der Einöde fern von Menschen wohnt?«
    Der Wunderheiler prallte zurück und musterte Mithridates erstaunt. Dann kniff er die Augen zusammen und bewegte seine Hand vor den Augen hin und her, als müsse er ein Trugbild wegscheuchen. Da es nicht verschwinden wollte, verschränkte er wie ein Stoiker die Arme und antwortete langsam, ohne den Blick von Mitjas Gesicht abzuwenden:
    »Ihr wünscht zu wissen, wer ich bin? Das ist die schwierigste Frage, die man einem Menschen stellen kann. Ich habe mein ganzes Leben darangesetzt, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. Der Zufall will es, dass ich russischer Staatsbürger und orthodoxen Glaubens bin. Meine Eltern gaben mir den Namen Daniel. Meine augenblickliche Beschäftigung: Arzt wider Willen. Und jetzt, da ich den Gesetzen des Respekts gehorchend auf Eure Frage geantwortet habe, antwortet Ihr mir, seltsames Menschenkind, wer Ihr seid. Ein Incubus? Ein Homunculus? Die Frucht meiner ins Kraut geschossenen Phantasie? Oder der Satan selbst, der das Aussehen eines Bauernjungen angenommen hat?«
    »Nein, nein«, beeilte sich Mitja seinen verständlichen Zweifel zu zerstreuen. »Ich bin ein ganz gewöhnlicher Sterblicher. Auch wenn ich noch jung an Jahren bin, so habe ich doch viel gelesen und nachgedacht, wodurch sich mein Verstand schneller entwickelt hat, als das normalerweise der Fall ist. Ich heiße Dmitri Karpow.«
    Er verbeugte sich, und der Mann, der sich Daniel nannte, antwortete ihm mit einer nicht weniger höflichen Verbeugung.
    »Ich schwöre auf den Verstand!«, rief er aus. »Ich habe von dergleichen Fällen gelesen, habe solche Erzählungen aber immer für Übertreibung gehalten. Jetzt sehe ich, dass es tatsächlich Varianten der Vernunft gibt, die schneller als üblich heranreifen, wie der Bambus sehr viel schneller als andere Bäume in die Höhe wächst. Darf ich fragen, wie viel Jahre Ihr genau seid, verehrter Herr Karpow?«
    »Sechs Jahre und elf Monate minus einen Tag.«
    Daniel verbeugte sich mit noch mehr Ehrerbietung.
    »Es ist für mich ein echtes Glück, eine solch seltene Person kennen zu lernen. Als ich Student der Moskauer Universität war, gab es bei uns einen Jüngling, der sehr viel jünger und gescheiter war als wir; er war gerade dreizehn, während wir anderen sechzehn oder manche sogar über zwanzig waren. Aber mit noch nicht sieben so gehaltvoll und gewandt zu sprechen! Da muss man ja begeistert sein!«
    »Danke.« Mitja verbeugte sich noch einmal und dachte, wie seltsam sich diese Zeremonie doch zwischen den Bretterwänden der kargen Hütte ausnehmen musste. »Aber ich habe eine ganz

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