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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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das Wesen der ganzen Macht besteht nur darin, den Wunsch der Untertanen zu erraten? Und was ist mit der aktiven Fraktion gemeint, die Ihr erwähntet?«
    »Der Herrscher muss nicht die Erwartungen aller Untertanen erraten, sondern nur die desjenigen Teils, von dem etwas abhängt. Ich nenne diesen Stand die aktive Fraktion der Gesellschaft. In den unterschiedlichen Ländern und zu unterschiedlichen Zeiten variieren Zahl und Zusammensetzung dieser Kohorte. Im spätantiken Rom zum Beispiel hat es Zeiten gegeben, zu denen nur die Prätorianergarde des Kaisers als aktiver Teil in Betracht kommt. Und auch bei uns in Russland ist die über Einfluss verfügende Fraktion der Gesellschaft nicht besonders groß: Adel, Beamte, die reichen Kaufleute und die hohe Geistlichkeit. Ein wahrer Staatslenker hat ein besseres Gespür für Verfassung und Stimmung der aktiven Schicht als diese selbst; er lässt es nie zu, dass ihn die Welle der Ereignisse überrollt – er behält immer die Oberhand und bleibt auf dem Kamm dieser Welle. Manche Gelehrte, welche die Geschichte studiert haben, verstehen nicht, wie so abscheuliche Tyrannen wie Tiberius und Iwan der Schreckliche so lange haben herrschen können, ohne dass ihre Untertanen sie umbrachten. Das Geheimnis ist einfach – diese blutrünstigen Bestien führten nur das aus, was der aktive Teil der Gesellschaft im Grunde seines Herzens wollte; anderenfalls hätten sie keinen Boden unter den Füßen gehabt.«
    Mitja dachte über das Gesagte nach und hatte sofort Einwände, aber Daniel war schon bei etwas anderem.
    »Ich habe diese Wahrheit schon in meiner Jugend verstanden und sah für mein Vaterland nur einen segensreichen Weg: die Zahl der Vertreter der aktiven Fraktion zu erhöhen, wofür man Stände aufnehmen müsste, die nie zuvor bei Staatsentscheidungen mitzureden hatten. Als die junge Kaiserin die Gesetzgebende Kommission einrichtete, sah ich darin den Prototyp eines russischen Parlamentes. Ich fühlte mich geschmeichelt, dass die junge Katharina auf meine Argumente hörte und sie mit Wohlwollen aufnahm.« Er lächelte bitter. »Ich lächerlicher Träumer! Der Weg zu Katharinas Verstand führt nicht über ihre Ohren, sondern über eine andere Öffnung. Andere Schlaumeier, die ich in meiner Naivität für Nullen hielt, haben diese Wahrheit sehr viel früher als ich begriffen. Tagsüber mochte Katharina auf ihre gelehrten Ratgeber hören, zu denen auch ich zählte, nachts aber hatte sie andere Nachtigallen, deren Stimme überzeugender klang. Wie oft hat sie, die meine Arbeiten schätzte, mir Belohnungen und Reichtümer angeboten, die ich ablehnte, denn ich war glücklich, an einer großen Sache mitwirken zu können. Andere hatten da entschieden weniger Skrupel. . .«
    Der Waldbewohner erzählte unglaubliche Geschichten, aber er sprach so einfach und traurig, dass man ihm glauben musste. Nein, einem Lügner und hohlen Angeber glich er nicht. Man sah, dass es auch in seinem Leben eine Zeit gegeben hatte, da er die höchsten Höhen der staatlichen Macht erklommen hatte.
    »Hat jemand der Favoriten dafür gesorgt, dass Ihr in Ungnade fielt?«, fragte Mitja, der sich fast sicher war, dass er den Grund erraten hatte. »Die Orlows? Oder der Fürst Potjomkin?«
    Daniel schüttelte stolz den Kopf.
    »Nein, ich ging aus eigenem Antrieb, als ich verstand, dass meine Projekte reine Chimären sind. Dann bin ich viel gereist. Habe die Augen und Ohren aufgemacht, wollte die Natur und die Menschen kennen lernen und verstehen. Ich habe viel gelernt, besonders über die Natur. Verstanden habe ich erheblich weniger, besonders vom Menschen. Und als ich in meine Heimat zurückkam, geschahen Dinge, die dazu führten, dass ich mich in diese abgeschiedenen Wälder zurückzog.«
    Das Wort »Dinge«, das an sich ja wenig Aussagekraft hat, gebrauchte der Alte, als bezeichne es etwas ganz Konkretes. Aus dem Ton konnte man schließen, dass das Ereignis, das er damit meinte, unerfreulich war.
    Nach einem Seufzer fuhr Daniel fort:
    »Ich sehe, Herr Karpow, Ihr seid nicht nur gebildet und klug, sondern habt auch eine feine Seele, die Euch daran hindert, einen auszufragen. Ich weiß das zu schätzen und danke Euch. Etwas lässt mich ahnen, dass wir uns in der Zukunft vielleicht näher kommen; dann werde ich Euch auch von meinem Unglück erzählen. Vorläufig möge es Euch genügen zu erfahren, dass ich nicht vor der menschlichen Gesellschaft davongelaufen bin, weil ich ein Einsiedler bin, der heilig sein will.

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