Der Favorit der Zarin
bald klingeln, daran gab es keinen Zweifel. Was Jeanne von ihrem Agenten im Einzelnen fordern würde, war unklar, aber es war mit Sicherheit etwas, was die Bewohner von Trost ins Unglück stürzen würde . . .
Es klopfte an der Tür. Das Dienstmädchen kam wieder herein. Sie legte eine Mappe auf den Tisch und sagte barsch:
»Das ist mir ja vielleicht ein schöner Lehrer, der nicht weiß, wen er unterrichtet. Hier, lesen Sie. Ich sammle die Artikel über Mira.«
Und sie entfernte sich mit arroganter Miene.
Fandorin löste die Schnüre. Obenauf lag eine Hochglanzzeitschrift für Frauen. Auf dem Umschlag war die schüchtern lächelnde Mira zu sehen. Und die Ankündigung in Großbuchstaben: »MIRANDA KUZENKO: DAS ASCHENBRÖDEL UNSERER ZEIT«.
Er setzte sich in den Sessel und begann zu lesen.
DIE MEERESFEE KAM IN EINEM MERCEDES
. . . Im städtischen Kinderheim von Krasnokommunarsk gab es mehr als zweihundert solcher Mädchen und Jungen. Die meisten waren hierher gekommen, als sie noch ganz klein waren, schon als Babys.
»Kinderheim«, »Internat«, diese Worte sind falsch, sie führen in die Irre. Man sollte sich nicht scheuen, das Wort »Waisenhaus« in den Mund zu nehmen, denn darum handelt es sich hier: Hier wird Waisenkindern Zuflucht gewährt, so gut es geht. Diese Kinder haben nie eine richtige Familie gehabt, sie sind immer in der Heimuniform herumgelaufen und haben nie etwas anderes als das Heimessen genossen, das leider mager ist, denn der Landkreis hier ist arm, er lebt von Subventionen und hat einfach nicht die Mittel, seine Waisenkinder zu verwöhnen.
Aber je rauer und trostloser das reale Leben ist, desto mehr sehnt sich die menschliche Seele danach zu fliegen, in Wunschträume zu fliehen; desto mehr lechzt sie nach dem Unmöglichen. Und jeder kleine Heimbewohner wiegt sich natürlich in der Hoffnung, dass seine Eltern ihn nicht im Stich gelassen, sondern verloren haben, dass sie nach ihrem lieben Kind suchen und es sicher eines Tages finden werden. Wie viele rührende, naive und einfach phantastische Geschichten die mit Ölfarbe gestrichenen Mauern der Schlafsäle gehört haben! Geschichten von Vätern, die Spione, von Müttern, die Schauspielerinnen sind, und Geschichten von Verwechslungen auf der Entbindungsstation . . .
Wie der Direktor des Waisenhauses von Krasnokommunarsk R. Mowsesjan dem Verfasser dieser Zeilen erzählte, versiegen solche Phantasien gewöhnlich, wenn die Kinder dreizehn Jahre alt sind, wenn der Heranwachsende sich auf das reale Leben eines Erwachsenen einzustellen beginnt. Sie versiegen, verschwinden aber nicht ganz, sondern ziehen sich auf den tiefsten Herzensgrund des jungen Menschen zurück.
Oh, wie das Wasser in diesen tiefen Strudeln in Wallung kam und zu brodeln begann nach jenem Wunder, das sich in dem verschlafenen Wolgastädtchen ereignete! Das Märchen stieg vom Himmel auf die Erde und erhellte das Leben aller Waisenkinder unseres unermesslichen Landes mit dem Zauberlicht der Hoffnung. Und man muss diese Geschichte auch so erzählen: wie ein Märchen.
Es war einmal ein Mädchen, das hatte den zauberhaften Namen Miranda. Aber außer dem klangvollen Namen hatte das Mädchen absolut nichts, noch nicht einmal einen Vater und eine Mutter. Sie wuchs heran wie der Halm auf dem Feld. Mütterliche Zärtlichkeit und väterliche Sorge schützten sie nicht vor bösem Wind und vor eisigem Regen, so dass sie mager und schwach war. Sie war in ihrer Kindheit häufig krank, so dass sie zweimal eine Klasse wiederholen musste, und obwohl sie wieder gesund wurde, blieb sie dünn und blass und unterschied sich krass von ihren rosigen Altersgenossinnen, die Eltern hatten.
Wovon Miranda wie viele ihrer Freundinnen am meisten träumte, das war das Märchen von Aschenbrödel, dem eines Tages eine gute Fee erscheint, die ihm mit einem Wink des Zauberstabs ein neues wunderbares Leben schenkt. Die Jahre zogen ins Land, das Märchen blieb Märchen, das Leben blieb, wie es war. Die anderen elternlosen Mädchen verschlangen schon Alexander Grins Erzählung »Purpursegel« und träumten nicht von einer Fee, sondern von einem Prinzen. Aber Miranda hatte es mit dem Erwachsenwerden nicht eilig und glaubte nach wie vor an ihr Kindermärchen. Und sie wurde für ihre Treue belohnt.
Und jetzt erlauben Sie mir, statt des Märchens die Fakten sprechen zu lassen.
Im Februar 1983 verbrachte ein junger Moskauer mit dem ungewöhnlichen Namen Mirat seinen Urlaub in einem Sanatorium auf der Krim. Ebendiesen
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