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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Ort hatte auch Nastja, eine junge Frau aus Perm, für ihren Urlaub gewählt. Sauregurkenzeit, das Meer ist kalt, die Strände sind leer. Wen wundert‘s, wenn sich zwischen den beiden eine kurze, aber stürmische Kur-Romanze entspinnt? Sie kannten einander nur dem Vornamen nach; sie fanden noch nicht einmal die Zeit, einander nach dem Nachnamen zu fragen. Zwei Monate später klingelte in Mirats Moskauer Wohnung plötzlich das Telefon. Es war Nastja. Sie sagte, sie erwarte ein Kind. »Wie hast du mich gefunden?«, fragte der junge Mann, der einen schlimmen Verdacht hatte. »Über deinen Vornamen«, antwortete sie. »Er ist so selten!« – »Lass es abtreiben«, sagte er und fügte finster hinzu, da ihm klar war, dass er würde bluten müssen: »Ich schicke dir Geld. Gib mir deine Adresse.« Aber Nastja brach in Tränen aus und warf den Hörer auf die Gabel. Sie rief ihn nie mehr an.
    Jahre später wurde Mirat ein berühmter Chirurg, ein erfolgreicher Unternehmer und Eigentümer mehrerer Schönheitskliniken. Sicher haben Sie die Werbung dieser Firma auch schon hier in unserem Heft und in anderen Hochglanzzeitschriften gesehen. Die Firma heißt – ja, und wer wollte darin nicht die mystische Handschrift des Schicksals sehen? – »Meeresfee Melusine«.
    Mirat Leninowitsch heiratete eine bildschöne Frau, und es stand bei den beiden alles bestens, nur Kinder wollte ihnen Gott nicht schenken. Da erinnerte sich der Millionär an die alte Geschichte. Ersuchte diese Nastja aus Perm, was nicht ganz einfach war, denn ihr Vorname war nicht wie seiner eine Seltenheit, sondern hundsgewöhnlich. Aber Mirat Leninowitsch scheute keine Mittel und Mühe, und nach mehreren Jahren unermüdlicher Suche brachte er Nastjas Nachnamen und ihre Anschrift in Erfahrung. Und erfand heraus, dass sie nach der Geburt dieses Mädchens gestorben war und man das Kind in ein Waisenhaus eingewiesen hatte.
    Der Rest war eine technische Frage, und hier schalte ich wieder auf die Märchenwelle um.
    Eines Tages öffnete die siebzehnjährige Insassin des Internats von Krasnokommunarsk das Fenster ihres Zimmers, wo sie mit fünf anderen Mädchen wohnte, und sah, wie ein pechschwarzer Märchenschlitten – so einen hatten die Bewohner der Kreisstadt ihr Lebtag nicht gesehen – über die Straße glitt. . .«
    Der Artikel war lang, aber Nicholas las ihn bis zum Schluss. Hin und wieder runzelte er die Stirn ob des kitschigen Stils, aber die Geschichte war wirklich ungewöhnlich und herzzerreißend.
    Er sah auch die anderen Artikel durch, es waren mehrere Dutzend; fast alle enthielten Fotos des reizenden Mädchens mit den großen Augen: vor dem Waisenhaus, in der Limousine, neben dem verlegenen Kuzenko. Wie viel Staub die Geschichte des Aschenbrödels von Krasnokommunarsk und des Besitzers der Klinik »Die Meeresfee Melusine« aufgewirbelt hatte! Kein Wunder, es handelte sich ja wirklich um eine echte Seifenoper vom Typ: »Reiche weinen auch«.
    Fandorin klappte die Mappe zu und ging zum Spiegel.
    Sein Gesicht sah aus wie immer, aber er wusste ja, dass er nicht Nicki Fandorin vor sich hatte, sondern einen Werwolf.
    Sollte er die kleine Welt um den Preis der großen retten?
    Er kniff die Augen zusammen.
    Um nicht den Mut zu verlieren, zwang er sein optisches Gedächtnis, ihm die kleine Welt vor Augen zu führen: Altyn, Erast, Gelja.
    Auf einmal erinnerte er sich daran, wie ihn seine Tochter gefragt hatte: »Wie ist das eigentlich, wenn man die Seele verliert?«
    Er zuckte zusammen. Er stellte dieselbe sinnlose Frage, die seit den Zeiten der Bibel unzählige Male gestellt worden ist: Mein Gott, was habe ich getan, dass mir diese Prüfung auferlegt worden ist? Sie übersteigt meine Kräfte. Das halte ich nie und nimmer aus!
    Dann öffnete er die Augen und sagte zu seinem Spiegelbild: »Ich bin ein Schuft.«
    ***
    Mit der Hausfrau war abgesprochen, dass der Unterricht zwei Stunden vor dem Mittagessen (Betragen und Englisch) und zwei Stunden vor dem Abendbrot (Englisch und Betragen) dauern sollte. Aber vom ersten Tag an trennten sich der Lehrer und die Schülerin nur für die Zeit des nächtlichen Schlafes und morgens, vor zwölf, wenn Mira mit den Fachlehrern arbeitete. Auf den Englischunterricht verwandten sie so viel Zeit wie vom Stundenplan vorgesehen, aber »Betragen« zog sich ganz unzulässig in die Länge und verschlang den ganzen Abend und manchmal sogar die halbe Nacht – bis zu dem Moment, da der Gouverneur sich endlich besann und das Mädchen schlafen

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