Der Favorit der Zarin
nehmen und dich für den Ball vorbereiten soll.«
»Guten Tag«, gurrte das Engelsstimmchen.
Fandorin verbeugte sich, ohne sich umzudrehen, was einigermaßen dumm aussah. Madame Kuzenko hätte selber eine Gouvernante brauchen können, so viel war sicher. Hätte sie denn nicht mit seiner Vorstellung warten können, bis das Mädchen angezogen war und herunterkam?
Aber da stieg Mira vom Himmel herab auf die Erde, und es stellte sich heraus, dass sie gar kein Mädchen, sondern noch ein richtiges Kind war. Dem Aussehen nach konnte man sie auf dreizehn schätzen, aber nur, wenn man einmal die heutige Verfrühung der Geschlechtsreife außer Acht ließ. Ihr Kopf reichte dem Magister bis zum Ellenbogen, sie war von schmächtiger Gestalt, ohne irgendwelche Andeutungen weiblicher Rundungen. Der BH, der durch das dünne Batistkleid durchschien, war jedenfalls mit Sicherheit überflüssig.
»Ich lasse euch allein, damit ihr euch in Ruhe miteinander bekannt machen könnt. Lauf nicht weg«, sagte Frau Kuzenko freundlich, fuhr zärtlich mit der Hand über die Locken des Mädchens und fragte: »Versprichst du mir das?«
»Ja, Inga Sergejewna.«
»Wie oft soll ich dir noch sagen, nenn mich einfach › Inga ‹ . Sir Nicholas, ich bitte Klawdija, sie möchte in zehn Minuten kommen und Ihnen beim Auspacken helfen.«
Als sich die Tür hinter der Frau geschlossen hatte, trat Mira zwei Schritte zurück, und zwar nicht, weil sie sich schämte, sondern damit sie den zwei Meter langen Lehrer besser sehen konnte.
»Was, redet man Sie echt mit › Sir Nicholas ‹ an?«, fragte sie ungläubig und konnte nicht verhindern, dass sie losprustete.
»Nennen Sie mich › Nikolaj Alexandrowitsch ‹ . Und lassen Sie uns gleich ausmachen: Ich bin dafür da, um Ihre sprachlichen Fehler zu korrigieren; also seien Sie mir deshalb bitte nicht böse. Einverstanden?«
Nicholas wartete, bis sie nickte, und fuhr fort:
»Erstens. Im Gegensatz zu › Wie ‹ hat › Was ‹ immer einen etwas unhöflichen Unterton. Zweitens, eleganter als der Ausdruck › echt ‹ wäre hier die kurze Floskel › in der Tat ‹ . Und drittens: Wenn man sich mit einem kaum bekannten Menschen, wie ich es bisher für Sie bin, unterhält, ist ein Kopfnicken als Zeichen des Einverständnisses zu vertraulich. Man sollte unbedingt laut › Ja ‹ oder › Gut ‹ sagen. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja. Aber siezen Sie mich bitte nicht, ja? Ich fühle mich sonst nicht die Bohne angesprochen.«
Mira schaute nach unten – Nicholas dachte, sie geniere sich. Aber nein, sie schaute heimlich auf ihre Uhr. Als sie dem Blick des Lehrers begegnete, flüsterte sie:
»Das ist eine französische, mit echten Brillanten. Eine Cartier-Uhr. Papa hat sie gekauft. Die kostet ein Mordsgeld. Ist die nicht echt schön? Huch«, verbesserte sie sich, »ich wollte sagen: Ist sie nicht in der Tat schön?«
Fandorin seufzte. O du große und mächtige russische Sprache! Da muss selbst der Teufel noch dazulernen!
Aber das Mädchen gefiel ihm leider. Wie hätte es auch anders sein können: sie war ja so nett, sah hübsch aus und war außerdem überhaupt nicht verdorben, sondern ganz offen und natürlich. Und ihr Wolga-Akzent war einfach rührend. Offenbar war dieser Akzent genau das, was Frau Kuzenko als »fürchterliche Aussprache« bezeichnet hatte. Mira hatte wohl mit ihrer Mutter nicht in Moskau, sondern in der Provinz gelebt.
Um nicht gleich als Pedant und Langweiler abgestempelt zu werden, schimpfte Nicholas nicht über das unfeine »nicht die Bohne« und »Mordsgeld«. Er ging zum Schreibtisch und beugte sich über den Computer.
»Spielst du Schiffeversenken? Macht dir das Spaß?«
»Eigentlich nicht besonders«, bekannte Mira und zog die Nase hoch. »Aber das ist das einzige Spiel, das ich kenne. Ich hatte bisher keinen Computer.«
»Es heißt nicht Computer, wie Puter, sondern Compjuter. Und was für Spiele würdest du gerne lernen?«
»Kennen Sie welche? In der Tat?« Mira packte ihn am Ärmel. »Ich habe im Fernsehen Jungen gesehen, die Abenteuer-Computerspiele spielten! Ein unterirdisches Gewölbe mit Schätzen, Skelette, und wenn du nicht die richtige Antwort gibst, bist du verratzt! Kennen Sie so was?«
Nickend schaute er in ihre klaren, freudig erregten Augen und dachte: »Sie ist reichlich infantil für ihr Alter, aber das macht sie noch anziehender.«
»Jetzt haben Sie aber selber genickt«, sagte Mira lachend. »Und haben nicht Ja gesagt! Zeigen Sie mir jetzt, wie die
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