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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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dann? Oder, richtiger, was? Nein, im Ernst, wenn sie morgen auf dem Friedhof landet, was soll ich dann tun?

ACHTZEHNTES KAPITEL
    KABALE UND LIEBE
    (Schiller, 1784)
    »Das können wir morgen entscheiden«, antwortete Daniel auf Mitjas flehentliche Frage und schützte die Augen mit der Hand vor den niedrig fliegenden Schneeflocken. »Das eine wie das andere: was wir machen und wie wir nach Moskau kommen sollen. Wir müssen erst mal gucken, dass wir den nächsten Morgen erleben, verehrter Dmitri Alexejewitsch. Du bist fast nackt. Und ich bin, wie du siehst, ebenfalls leicht angezogen. Alle Dörfer der Umgebung gehören Ljubawin. Man wird uns da wohl kaum aufnehmen und uns Gelegenheit geben, uns aufzuwärmen, wahrscheinlicher ist, dass sie uns bei der Miliz anzeigen. Ist das nicht merkwürdig? Ein Wahnsinniger hat Macht über viele ganz normale Menschen, und keiner traut sich, ihm entgegenzutreten. Funktionieren so nicht auch andere und sehr viel größere Reiche?« Vondorin wollte noch eine Sentenz von sich geben, aber da flog ihm ein ganzer Klumpen weicher Schnee in den Mund, und er spuckte aus. »Wir müssen machen, dass wir wegkommen, solange der Schneesturm wütet. Wir schlagen uns erst mal durch den Wald, bis wir auf dem Weg nach Klin sind. Wenn es das Schicksal gut mit uns meint, können wir vielleicht in einem Dorf übernachten, das zwar nicht so wohlhabend wie Mironows Paradies, dafür aber ungefährlich ist.«
    »Das schaffen wir nicht«, sagte Mitja zähneklappernd und schluchzte auf. »Wir erfrieren. Ohne Pelz, ja sogar ohne Mantel . . .«
    Er hatte die Weste an, eine kurze Hose und Strümpfe. Solange sein Herz vor Angst wie ein Hammer geschlagen hatte und das Blut durch die Adern gejagt war, hatte er die Kälte nicht gespürt, aber jetzt drang sie ihm durch Mark und Bein. Daniel war ebenfalls leicht bekleidet in den Park gelaufen, er hatte noch nicht einmal eine Mütze angezogen.
    »Wir lassen uns den Mut nicht nehmen«, sagte er, während er sich die Schneeflocken von den Brauen wischte. »Einen Pelz kann ich dir nicht versprechen, aber einen Mantel kriegst du jetzt gleich.«
    Er zog seinen Gehrock aus und hüllte Mitja darin ein – da hatte der wirklich einen Mantel, ja sogar fast so etwas wie einen bis zu den Fersen reichenden Offiziersrock.
    »Schlecht, dass dein Schuhwerk für die Winternatur wenig geeignet ist«, sagte Vondorin seufzend. »Aber es ist für den Erzieher Ihrer Kaiserlichen Majestät ja eigentlich eine Schande, sich zu Fuß fortzubewegen. Habt die Güte, aufs Pferd zu steigen, gnädiger Herr. Es ist zwar alt, hält aber einiges aus.«
    Und er nahm Mitja auf den Arm und presste ihn an seine Brust.
    »Dann ist auch mir wärmer. Vorwärts! Mit einem Lied, wie es Usus ist, wenn man marschiert! Hör zu. Ich singe dir die › Hymne auf das Gold- und Rosenkreuz ‹ , ein schönes Lied.«
    Er schritt durch den Schnee, sang aus voller Kehle und spuckte nur hin und wieder den Schnee aus, der ihm den Mund verstopfte.
    Umsonst umtobt uns Wind und Wetter,
Umsonst droht uns der Freiheit Feind,
Wir leben lieber wie die Bettler
Als ohne Unabhängigkeit.
    Schwimm auf dem grenzenlosen Meere,
Das du im Grunde selber bist,
Halt dich ans Dreigestirn: die Ehre
Sowie die Güte und die List.
    Wie sollen Pfeile, Hunger, Kälte
Dich hindern, wenn zum Ziel du eilst,
Dein Nachen sinkt bei keiner Welle,
Wenn dein Verstand den Weg dir weist.
    Das Lied war schön, aufmunternd und hatte unzählig viele Strophen. Anfangs hörte Mitja zu, ließ es dann aber, weil er auf einmal Sturmwellen mit Schaumkronen vor sich sah und in der Ferne am Horizont ein weißes Segel bemerkte. Am Himmel stand eine grelle Sonne, nicht eine gelbe, sondern eine rote. Sie sah ganz lebendig aus: zog sich gelassen zusammen und dehnte sich aus. Als er genauer hinsah, bemerkte er, dass sie bei jeder Ausdehnung heiße Strahlen aus sich herauspresste, die sich dann über die ganze Himmelssphäre verteilten. Das war gar keine Sonne, sondern ein Herz, ging Mitja auf. Als er dem Klopfen des ungewöhnlichen Gestirns genauer zuhörte, begriff er etwas, das noch sonderbarer war: Das war kein beliebiges Herz, sondern sein eigenes, Mitjas Herz. Und er erklärte sich das auch sofort: Wenn in meinem Inneren ein uferloses Meer ist, wer soll dann die Sonne sein, wenn nicht mein Herz? Und er beruhigte sich und hielt nach dem Segel Ausschau.
    Auf dem Ozean fuhr ein Schiff. An Deck war nur ein einziger Mann, ein Winzling. Mitja kniff die Augen zusammen und

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