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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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musterte den kühnen Seemann aus nächster Nähe. Ach so, das war doch Mithridates Karpow, in ureigenster Person! Was für ein verschrecktes Gesicht er hatte, wie furchtsam er sich nach allen Seiten umschaute! Er musste Angst haben zu ertrinken.
    Dummkopf!, wollte Mitja seinem Doppelgänger zurufen. Wovor fürchtest du dich denn? Das geht doch gar nicht: ertrinken in sich selbst? Hab keine Angst, schau dich furchtlos um!
    Aber der kleine Seemann hörte nichts. Ihn quälten Hunger und Durst, er kam um vor sengender Hitze.
    »Wasser«, flüsterte er mit ausgedörrten Lippen. »Es ist so heiß!«
    An dieser Stelle kam Mitja zu sich. Er sah einen öden Weg, den wirbelnden Schnee und ganz in seiner Nähe: Daniels Gesicht. Der presste seine eiskalte Wange an Mitjas Stirn.
    »Ach, mein gnädiger Herr, du hast eine Stirn, da kann man eine Zündschnur dran anzünden. Herrgott Verstand, wo ist denn hier ein Haus? Das ist ja die reinste sibirische Wüste! Dabei sind es bis Moskau nur hundert Werst!«
    Und wie der Wind aufheulte und einem die kalten Körner ins Gesicht fegte!
    Nein, dann doch lieber Hitze und Meer.
    Mitja schloss wieder die Augen und spürte sofort, wie ihn eine heiße, salzige Brise umwehte. Erfahrung und Gespür des weitgereisten Seemanns sagten ihm: Ein Orkan kam auf. Er schaute sich um und erzitterte. Vom fernen Himmelsrand näherte sich eine rasch größer werdende Wolke. Sie änderte schnell Farbe und Form. Und das Meer wurde sofort dunkel, das Boot schaukelte ziellos von einer Seite auf die andere.
    Es muss hier eine Insel geben, da war sich Mitja sicher. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und sah in weiter Ferne einen gelbgrünen Hügel, der über die Wellen ragte.
    Los, schnell dahin!
    Er stürzte ans Steuer und warf sich mit dem ganzen Leib darauf. Ein Wettlauf begann: Wer war schneller, die Wolke oder der Kahn?
    Der Wettlauf dauerte unendlich lange, Mitja ging am Ende die Kraft aus.
    Nur ein einziges Mal verließ der Steuermann seinen Posten -um einen Schluck Wasser aus einem Tonkrug zu trinken.
    Aber die Flüssigkeit war nicht erfrischend, sondern bitter und eklig.
    Mitja weinte sogar vor Ärger und Enttäuschung.
    Plötzlich sah er Daniel über sich – abgemagert und mit grauen Stoppeln im Gesicht.
    »Trink«, sagte Daniel, »trink.«
    Aber all das hatte nichts mit der Hauptsache zu tun, die darin bestand, ob Mitja es noch zu der Insel schaffte, bevor der Sturm losbrach.
    Das aufgeblähte Segel knallte und flatterte, es konnte jeden Augenblick bersten, hielt aber noch. Doch der Wind wurde immer stärker. Mitja hatte noch in keinem Buch gelesen, dass es einen solch starken Wind gibt. Der einen auf das Deck wirft, der einem die ganze Haarpracht bis zum letzten Härchen vom Kopf wegpustet!
    Eine riesige Woge ließ das Boot hochschnellen. Mitja sah einen steinernen Felszacken vor sich aufragen. Das war’s, er war verloren! Aber die Woge hob den Nachen noch höher, trug ihn über das Riff und setzte ihn in einer Bucht ab.
    Sofort ließ der Sturm nach. Zwar krachte und heulte es in der Ferne noch, aber hier in der Bucht herrschte vollkommene Stille. Gelber Sand, weißer Himmel, gleißende Sonne. Grell, so grell, dass die Augen wehtaten.
    Mitja bedeckte die Augen mit der Hand, die vom Kampf mit dem Element schwer geworden war.
    Was ist denn nun los? Die Sonne ist ja quadratisch!
    Er blinzelte verwundert und sah, dass die Sonnenstrahlen durch ein kleines Glimmerfenster drangen. Das Gelbe war nicht der Sand, sondern eine nach frisch gefällten Kiefern riechende Holzwand, und der Himmel war gar nicht der Himmel, sondern die weiße Zimmerdecke.
    Mithridates selbst lag unter einem muffigen Pelzmantel auf einer Bank in einem kleinen hellen Zimmer. In der Ecke war noch jemand; es war zu hören, wie er im Schlaf atmete.
    Mitja schielte zur Seite, denn er hatte keine Kraft, den Kopf zu drehen. Der da schlief, war Vondorin; er hatte sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt und lag direkt auf dem Fußboden. Sein Aussehen war seltsam: Wangen und Kinn waren mit grauen Stoppeln übersät, auf den nackten Schultern hatte er eine zerlumpte Pelzjacke, an den Füßen keine Stiefel, sondern Bastschuhe. Was waren das für Verwandlungen? Und wo war die wunderbare Insel geblieben?
    Es gelang ihm nun doch, den Kopf zu drehen; aber er verzog das Gesicht: Was raschelte da so widerwärtig auf dem harten Strohkissen? Was sollte das?
    Er fasste sich an den Kopf. Um Gottes willen! Wo waren seine Haare? Er fühlte nur Stacheln.

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