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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Altyn war mit dem Kindergarten zufrieden.
    Tochter Gelja saß im Flur auf dem Schuhschrank und baumelte mit den Beinen.
    »Na, endlich«, sagte sie (die Direktheit hatte sie von der Mutter gelernt). »Es ist schon acht Uhr. Kostja und Vika sind schon abgeholt worden.«
    Nicholas horchte auf das Geschrei, das aus der Tiefe der Wohnung drang, und konterte:
    »Aber die anderen sind doch auch noch hier.«
    »Kostja und Vika sind aber schon abgeholt worden«, wiederholte die Tochter unbeirrbar, gab dem Vater aber einen Kuss auf die Backe, was Nicholas wie immer rührte, obwohl es nur ein Ritual war.
    »Warum spielst du denn nicht?«
    »Ich mag das Spiel »Einnahme des Amin-Palastes ‹ nicht.«
    »Einnahme von was für einem Palast?«, fragte Fandorin verwundert.
    »Bist du etwa ein Tschuksche, Papa?«, fragte Gelja empört und schüttelte den Kopf. »Amin, das ist der Afghanistaner, der uns alle verraten wollte.«
    »Afghane«, korrigierte Nicholas in Gedanken und nahm sich zum x-ten Mal vor, mit Wladlenin Nikitowitsch zu reden, der die Kinder mit allem möglichen Unsinn verrückt machte. Und was sollte dieser Ausfall gegen das Volk der Tschukschen? Oder ich rede mit Serafima Kondratjewna, machte der Magister einen Rückzug, denn er hatte ein bisschen Angst vor dem Major a. D., dem eine Titanplatte in die Schädeldecke eingesetzt worden war.
    Er brauchte zwanzig Minuten, um den Sohn aus dem Gefecht zu ziehen. Erast ließ sich erst evakuieren, nachdem er ein schweres Herztrauma erlitten hatte. Nicholas trug den Helden in den Flur und zog ihm die Kleider und Schuhe an. Der Verwundete kam erst auf der Treppe wieder zu Bewusstsein.
    Es war wirklich seltsam, wie wenig die Zwillinge einander ähnelten. Gelja hatte helle Haare, aber die dunkelbraunen Augen ihrer Mutter. Erast dagegen hatte schwarze Haare und blaue Augen.
    Wegen der Namen war es zwischen den Gatten zu einer Schlacht gekommen. Sie konnten sich nicht einigen, wie sie den Sohn und die Tochter nennen sollten. Am Ende triumphierte die Gerechtigkeit: über den Namen des Jungen entschied der Vater, über den Namen des Mädchens die Mutter. Beide, sowohl Nicholas als auch Altyn, waren äußerst unzufrieden über die Wahl der Gegenseite: Die Mutter sagte, die Kinder würden den Jungen mit diesem Namen aufziehen und ihn als Päderast beschimpfen; von dem heroischen Urgroßvater Erast Petrowitsch wollte sie nichts wissen. Nicholas seinerseits fand den Namen Angelina abgedroschen und prätentiös. Obwohl er zu der Tochter passte: Wenn sie wollte, konnte sie ein solches Engelchen sein, dass selbst Raffael sich hätte rühren lassen.
    Wenn Altyn nicht da war, gab es keine Autorität in der Familie der Fandorins, und es machten sich Anarchie und Prinzipienlosigkeit breit; Nicholas gelang es daher erst gegen zehn, die Kinder ins Bett zu bringen. Jetzt musste er nur noch das Abendmärchen vorlesen, dann konnte er sich für den Kammersekretär weitere Abenteuer ausdenken.
    »Iwan der Zarensohn und der böse Wolf«, las Nicholas den Titel des Märchens vor und legte eine spannungsvolle Pause ein.
    Erast, ein dicker, langsamer, solider Knabe, stützte seinen Kopf mit der Hand ab und zog die Brauen zusammen. Die Ecke, in der sein Bettchen stand, strotzte vor Waffen und Schlachtenzeichnungen. Gelja hatte den Mund geöffnet, die Decke bis zum Kinn hochgezogen und stellte sich darauf ein, sich zu fürchten. An ihrer Wand hing eine Zeichnung, die ein Fenster mit einer Meeresaussicht darstellte, und über der Zeichnung hingen echte Vorhänge mit Spitzen.
    »Es war einmal in einem Zarenreich, in einem russischen Lande, da lebte einst Iwan der Zarensohn«, begann Fandorin.
    »Ein Junge?«, fing Gelja sofort an zu maulen. »Schon wieder? Entweder geht es um den Däumling oder um Jemeljan. Und wann kommt mal ein Mädchen dran?«
    Erast verdrehte genervt die Augen, hielt sich aber zurück und sagte nichts.
    »Es kommt auch ein Mädchen vor«, sagte Fandorin und überflog schnell die Zeilen; er erinnerte sich, ehrlich gesagt, nur lückenhaft an das Märchen vom bösen Wolf, er hatte nur die Bilder von Wasnezow im Kopf. »Du musst dich nur ein bisschen gedulden.«
    »Das ist ungerecht. Das Mädchen muss sofort da sein.«
    »Na gut. Da lebte auch ein Mädchen, nämlich die Zarentochter Marja. Hübsch, liebreizend und mit roten Apfelbäckchen . . .«
    »Und der Zarensohn Iwan?«, sagte der Sohn, der sofort eifersüchtig wurde. »War der nicht schön?«
    »Natürlich war er schön.«
    »Und

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