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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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des Regisseurs ihre Nummer tanzten. (»Wie ein Bächlein zurück! Sprung! Noch einmal! Jetzt mit den Beinen arbeiten! Sie da, Mädchen im gelben Trikot, ich habe gesagt, mit den Beinen und nicht mit dem Po! Eine Welle mit den Händen formen! So! Nun habt ihr also das Stretchprogramm hinter euch gebracht!«)
    Inmitten dieser Brownschen Molekularbewegung wirkte Glen wie die Primaballerina des Ballettkorps. Seine Sprünge waren die höchsten, sein Bächlein das eleganteste, die Beine warf er so nach hinten, dass das Knie mit der Schulter verwuchs, und als der Regisseur die Anweisung gab, »ein wenig Erotik einfließen zu lassen«, schauten alle, die im Saal saßen, nur noch auf den wiedererstandenen göttlichen Antinoos.
    Dabei schaffte es Valja noch, dem Chef kurze Blicke zuzuwerfen, deren Sinn eindeutig war: Er hatte ihn hergeführt, um ihn zu beeindrucken. Fandorin seufzte und sah auf die Uhr. In zehn Minuten musste er die Kinder abholen.
    Der Regisseur entließ alle außer Valja von der Bühne und trieb nur ihn an, so dass man den Ausgang des Wettbewerbs als vorentschieden betrachten konnte.
    Auch die folgende Kandidatengruppe, die Fans der Tänzer und selbst die durchgefallenen Kandidaten wandten kein Auge von dem göttlichen Tänzer, sondern stachelten ihn mit Zurufen und Beifall an. Besonders die Mädchen legten sich ins Zeug. Nicholas fiel auf, dass einige von ihnen sich auch mit unübersehbarem Interesse nach ihm umsahen. Das schmeichelte ihm. Wenn sich kleine Nymphchen an dem Vierzigjährigen nicht satt sehen konnten, dann taugte er noch zu etwas. Er streckte sich in den Schultern und schlang lässig den Arm um den Rücken des unbesetzten Sessels neben sich.
    Ein Mädchen, ein sehr dünnes, das mit ihrem roten Kostüm einer Frühlingsmöhre glich, flüsterte mit ihren Freundinnen und trat dann zu Fandorin. Das war zu viel des Guten. Sich unschuldig an dem jungen Gemüse ergötzen, das ist eins, aber kann man denn in eine Unterhaltung mit ihm eintreten, womöglich noch in eine mit einem heiklen Thema?
    Er nahm für alle Fälle den Arm vom Sessel, knöpfte das Jackett zu und runzelte die Stirn.
    »Entschuldigen Sie, sind Sie schwul?«, fragte das Mädchen, das an ihn herantrat.
    Da er die lockeren Sitten der Moskauer Jugend kannte, wunderte sich Nicholas nicht besonders. Er antwortete nur:
    »Nein.«
    Die Möhre strahlte, drehte sich zu ihren Freundinnen und zeigte ihnen zwei kreisförmig zusammengelegte Finger, was okay hieß.
    »Dann sind Sie also sein Erz?«, sagte sie und nickte Richtung Bühne. »Sie sind sicher gekommen, um Däumchen zu drücken?«
    Erst jetzt verstand Nicholas den Grund für das Interesse des Mädchens an seiner Person. Erz war die Kurzform für Erzeuger und sollte Vater bedeuten.
    »Nicht der Erz, sondern ein Kollege«, antwortete er traurig. »Aber mein liebes Fräulein, ich rate Ihnen nicht, sich in Valja zu verlieben.«
    Das Mädchen fasste sich ans Herz und sagte:
    »Dann ist er also schwul? Er interessiert sich nicht für Mädchen, ja?«
    Nicholas wusste nicht so recht, wie er die Spielart von Valjas Vorlieben erklären sollte.
    »Er ist. . . sowohl als auch. Aber ich sage noch einmal, ich rate Ihnen ab. Sie werden sich nur die Augen ausheulen.«
    »Onkelchen, Ihr solltet Eure Ratschläge auf dem Markt verkaufen«, antwortete das aufgeheiterte Fräulein. »Da könnt Ihr ordentlich Kohle machen.«
    Und sie ging weg. Wie heißt es doch so richtig: »Kindermund tut Wahrheit kund.«
    Zur Pokrowka, zum Kindergarten »Peripatetiker«, schaffte es Nicholas schneller, als er gedacht hätte. Anders als am Vortag gab es keinen Stau auf dem Boulevard; Gott sei Dank war November, die Schlummerzeit, wo der Strom aller lebensbildenden Flüssigkeiten schwächer wird, darunter auch der des Moskauer Verkehrs.
    Der Kindergarten war kein gewöhnlicher, staatlicher, sondern ein privater, progressiver. Eine pensionierte Lehrerin, die es leid gewesen war, von anderthalbtausend Rubeln im Monat dahinzuvegetieren, hatte eine Gruppe von zehn Kindern übernommen. Eine Mitbewohnerin aus ihrer Gemeinschaftswohnung, früher Graphikerin, war für das Essen zuständig. Der spontan zusammengekommene Personalbestand der Vorschulinstitution rekrutierte sich aus weiteren Mitbewohnern: eine arbeitslose Apothekerin und ein invalider Killerkommando-Major a. D., dem man Sport und Bewegungsspiele anvertraut hatte. Die Eltern zahlten nicht wenig, aber die Institution »Peripatetiker« war das wert, sogar die anspruchsvolle

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