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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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aus dem Halbdunkel die mit Kreide gezeichneten Konturen einer menschlichen Gestalt auf.
    »Was ist da los?«, fragte Fandorin.
    »Ein Abflug, ein Starfighter«, antwortete Valja verträumt.
    »Was denn für ein Abflug?«
    »Ein ultimativer. Ein Typ ist ausgeflogen. Ganz. Hat allen Fuck off gesagt, und weg isser. Er hat sich wahrscheinlich Schnee reingezogen oder Briefmarken abgeleckt, davon wachsen einem auch Flügel.«
    »Hat sich jemand aus dem Fenster gestürzt?«, fragte Nicki mit zitternder Stimme. »Gerade eben?«
    Da lebst du dein hundsgewöhnliches glückliches Leben, ärgerst oder freust dich über Lappalien, und gleichzeitig erstickt ganz in deiner Nähe jemand vor Schmerz oder unerträglicher Einsamkeit und spricht sich selbst das Todesurteil. . .
    »Nein, es ist schon eine ganze Weile her. Drei Stunden. Zuerst haben die Klageweiber im Hof gejammert, dann kamen die Flics. Ich wollte es Ihnen sagen, aber Sie haben mir ja eins mit der Birkenrute über die Backside gebraten.«
    »Was hast du da für einen Unsinn von Briefmarken erzählt?«, fragte Nicholas finster, während er vom Fenster wegging. »Was denn für Flügel? Du hast es mir doch versprochen, Valentin. Wenn du Drogen nimmst, fliegst du auf der Stelle, ohne Abfindung.«
    »Da würde ich aber arm wie eine Kirchenmaus«, spottete der Assistent.
    Volltreffer. Was wahr ist, ist wahr: Nicholas zahlte seinem Assistenten wenig und auch das mit Verzug. Andererseits arbeitete Glen im »Land der Räte« nicht aus merkantilen Interessen. Seine Mutter, eine Bankiersfrau (Valja nannte sie Mammon), gab ihrem Söhnchen für Kino und Eis weitaus mehr Geld, als Nicholas in den besten Zeiten vor der Krise verdient hatte. Fandorin hatte dem Repräsentanten der Jeunesse dorée mehrfach angedeutet, dass er bei der jetzigen Konjunktur durchaus ohne Sekretär klarkäme, aber die Reaktion auf derartige Demarchen war stürmisch. An blauen Tagen war er vor männlicher Gekränktheit wortkarg, an rosa Tagen kriegte er, das heißt SIE, einen hysterischen Anfall mit Geheule.
    Glen machte kein Geheimnis aus dem Grund, warum er fünf Tage in der Woche von elf bis fünf im Vorzimmer des Office 13 a hockte. Der Grund war romantisch und hieß »Liebe«. In welcher von seinen beiden Gestalten Valja verliebt in den Chef war, blieb für diesen ein Rätsel, denn Nicholas schnappte die schmachtenden Blicke seines Assistenten sowohl an blauen wie an rosa Tagen auf. Glen hatte die sagenhafte Geduld eines Holzwurms, und trotz der totalen Immunität seines angebeteten Chefs gegen androgyne Verführungen verlor er nicht die Hoffnung, früher oder später doch ans Ziel zu gelangen. Fandorin gewöhnte sich allmählich an die ermüdenden Marotten seines Sekretärs: das einladende Zucken mit den Wimpern, das Ablecken der scheinbar ausgetrockneten Lippen, das ständige Herunterrutschen des Trägers von der spitzen Schulter, und beachtete sie nicht mehr. Schließlich erledigte Valja die Büroarbeit hervorragend und war bei Hausbesuchen einfach unersetzlich. Wie sollte er einen anderen ebenso guten Mitarbeiter finden und dann auch noch für dieses lächerliche Gehalt? Diese Logik hatte zweifellos etwas von Ausbeutung, aber Fandorin ging davon aus, dass Valjas Leidenschaft mit der Zeit eine platonische Form annehmen werde; das Sexualleben des Menschen der Zukunft verlief auch ohne Nicholas’ Zutun sehr stürmisch.
    Valja senkte vorwurfsvoll die Lider, fuhr sich mit einer zärtlichen Handbewegung über den dünnen Hals, der liebevoll eingerahmt war vom Rollkragen eines fünfhundert Dollar teuren Pullovers, und strich sich über den spiegelglatt polierten Scheitel. Er war sehr stolz auf die ideale Form seines Schädels und stellte ihn in seiner männlichen Variante demonstrativ zur Schau, während sie in der weiblichen Variante die Vielfalt unterschiedlichster Frisuren vorzog: Sie bewahrte in einem besonderen Schrank Dutzende von Perücken der unwahrscheinlichsten Formen und Farben auf.
    »Take it easy«, sagte Glen und berührte dabei Nicholas’ Schulter mit einem Finger. »Er wollte es so und ist weggeflogen. Das ist seine ureigenste Privacy. Wir sind doch alle Zug-Birds; knabbern ein bisschen an Kernen, brüten Küken aus und kruhkruikruh, kruhkruikruh, da ist es schon Zeit, ins Paradies aufzubrechen. Fahren wir nun ins Theater oder nicht, Chef? I am wahnsinnig nervous!«
    Von wegen wahnsinnige Aufregung, alles gelogen. Das wurde klar, als dreißig Kandidaten auf der Bühne nach den Anweisungen

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