Der Favorit der Zarin
liebreizend und hatte rote Apfelbäckchen«, führte Erast den Satz zu Ende.
»Ja.« Nicholas legte das Buch beiseite. Bei dieser aktiven Beteiligung der Kinder gelang es selten, ein Märchen bis zum Ende vorzulesen; er musste sich spontan etwas einfallen lassen. »Der Zarensohn Iwan und die Zarentochter Marja verliebten sich ineinander und beschlossen zu heiraten . . .«
»Das geht nicht«, fiel ihm Erast ins Wort.
»Warum?«
»Weil sie Bruder und Schwester sind.«
»Wie kommst du denn dadrauf?«
»Sie haben doch denselben Vater. Schwestern und Brüder können nicht heiraten, das geht nicht.«
Nicholas dachte nach und fand einen Ausweg:
»Das ist doch ein Märchen. Du weißt doch selber, dass im Märchen alles Mögliche geht. . .«
Erast nickte, er konnte fortfahren.
»Der böse Zauberer Kastschej der Unsterbliche verliebte sich in die Zarentochter Marja, raubte sie und entführte sie in ein fernes Land, hinter den drei mal neun Reichen und den drei mal zehn . . .«
An dieser Stelle unterbrachen beide.
Gelja erklärte:
»Wenn er sich verliebt hat, dann kann er so böse auch wiederum nicht sein.«
Der Sohn dagegen runzelte die Stirn und sagte:
»Ich nix verstehn.« (Er hatte diesen Spruch in der Fernsehwerbung aufgeschnappt und musste ihn nun überall anbringen.) »Was denn für ein Kastschej der Unsterbliche? Der, dem wir mit Iwan dem Dummen erst das Ei zerschlagen und dann die Nadel zerbrochen haben? Der fiel doch hin und ist tot!«
»Na und . . .«, sagte Fandorin, der nicht sofort wusste, wie er sich aus der Affäre ziehen sollte. »Das war später. Die Zarentochter Marja hat er zuvor geraubt.«
»Dann hättest du auch zuerst von Iwan dem Zarensohn und erst danach von Iwan dem Dummen erzählen müssen«, maulte Erast. »So ist das verkehrt. Aber mach mal weiter.«
Auf Geljas völlig richtige Bemerkung zur Liebe antwortete Nicholas nichts, er lächelte nur und strich ihr über die feinen Haare. Sie ruckelte ungeduldig mit dem Kopf, als wolle sie sagen, für diesen Quatsch ist jetzt keine Zeit, mach man lieber weiter.
»Iwan der Zarensohn setzte sich also auf das wackere Ross und machte sich auf die Suche nach der Zarentochter Marja. Auf seinem Weg durchquerte er dunkle Wälder, tiefe Meere, hohe Berge und blaue Seen. Er ritt einen Monat, zwei Monate, drei Monate und gelangte an einen Ort, wo es nichts gab, wo nur der Wind heulte und die Krähen krächzten. Da sah er, wie auf dem Weg ein riesig großer Stein lag, auf dem stand: › Wenn du geradeaus gehst, verlierst du dein Leben; wenn du nach links gehst, verlierst du deine Seele; wenn du nach rechts gehst, verlierst du dein Ross; einen Rückweg gibt es nicht. ‹ «
»Ist das jetzt nicht genug vom Zarensohn Iwan?«, rebellierte Gelja. »Jetzt muss die Zarentochter Marja mal endlich drankommen. Wie geht es ihr denn bei Kastschej dem Unsterblichen, worüber unterhalten sich die beiden, was gibt er ihr zu essen und was für Geschenke macht er ihr?«
»Wie kommst du auf die Idee, dass er ihr etwas zu essen gibt und ihr Geschenke macht?«
»Na, er liebt sie doch.«
»Ach so, stimmt ja«, sagte Nicholas und kratzte sich an der Nase. »Na, also sie lebte bei ihm gar nicht so schlecht. Er war ein stattlicher Mann, noch jung, hatte in seinem Leben viel gesehen und war klug. Er erzählte tolle Geschichten. Aber die Zarentochter Marja konnte ihn nicht lieben, weil. . .«
»Weil sich Liebe eben nicht erzwingen lässt?«, fragte die Tochter.
Erast verkniff sich das Lachen und hüstelte unauffällig. Das bedeutete: Ist nun nicht endlich genug mit diesem Quatsch?
Fandorin fuhr fort:
»Iwan der Zarensohn steht vor dem Stein und überlegt, wohin er reiten soll. Sein Leben verlieren will er nicht, die Seele verlieren noch weniger . . .«
»Wie ist das eigentlich, wenn man die Seele verliert?«, wollte Gelja wissen.
»Das ist das Schrecklichste, was geschehen kann. Weil es gar nicht auffällt. Ein Mensch wie jeder andere auch, so scheint es, aber er hat keine Seele, er sieht nur so aus wie ein Mensch.«
»Gibt es viele davon?«, fragte die Tochter ängstlich.
»Nein«, konnte Nicholas sie beruhigen. »Ganz wenig. Und auch die sind nicht endgültig verloren, denn wenn man sich sehr anstrengt, kann man seine Seele wiederfinden.«
»Geht das Märchen nun weiter oder nicht?«, sagte Erast, um die spitzfindige Diskussion zu beenden. »Wohin ist er denn nun geritten?«
»Natürlich nach rechts.«
Gelja fragte mit zitternder Stimme:
»Und das Pferd? Es
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