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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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war doch ein wackeres Ross, das hast du doch selber gesagt.«
    Der Sohn sah mürrisch drein: so eine Unordnung . . .
    »Das Pferd hat er nicht mitgenommen«, sagte Nicki, eine neue Variante erfindend. »Er hat es an dem Stein stehen gelassen, damit es dort grasen kann.«
    »Das ist gut«, fand der praktische Erast. »Er kann es ja auf dem Rückweg wieder mitnehmen.«
    An dieser Stelle forderten die Gesetze der Gattung so etwas wie Suspense, so dass Nicholas seine Stimme möglichst unheimlich klingen ließ:
    »Der Zarensohn Iwan ging nach rechts und kam in einen dichten, dichten Wald. Es war stockdunkel darin! Unter seinen Füßen raschelte es, über seinem Kopf schwirrten irgendwelche Flügel, und aus der Finsternis leuchteten irgendwelche Augen.«
    »Puuuh«, sagte Gelja und zog sich die Decke bis an die Augen, während Erast nur mannhaft die Zähne aufeinander presste.
    »Auf einmal kam der böse Wolf auf den Weg gesprungen«, sagte Nicholas und ließ die Spannung noch weiter wachsen. »Er hatte entsetzliche Zähne, entsetzliche Krallen, und das Fell stand ihm zu Berge. Und als er seine gelben, spitzen Hauer sehen ließ . . .«
    Hier musste er unterbrechen, weil die Türklingel schrillte. Wer konnte das sein, nach zehn Uhr? Ob Altyn sich umentschlossen hatte und nicht zu ihrer Notzucht gefahren war?
    »Ich mache nur die Tür auf und komme gleich«, sagte Nicki und stand auf.
    Nein, das war nicht Altyn.
    Auf der Treppe stand ein Mann in einer Sportjacke. Frisch rasiert, mit störrisch vorgeschobenem Unterkiefer und kleinen, lebhaften Augen. Unter dem Arm hatte der Unbekannte eine Mappe aus Kunstleder mit Reißverschluss.
    »Wohnt hier ein gewisser Nikolaj Alexandrowitsch Fandorin?«, fragte er und musterte den langen Lulatsch vom Scheitel bis zur Sohle.
    »Ja, das bin ich«, antwortete Nicholas vorsichtig.
    Jeder Russe weiß, dass man von unangekündigten späten Besuchen nichts Gutes zu erwarten hat.
    »Dann bin ich bei Ihnen also richtig«, sagte der Mann mit einem breiten Lächeln, als handele es sich um eine überaus erfreuliche Nachricht. »Ich komme von der Moskauer Kriminalpolizei, sechzehnte Abteilung. Mein Name ist Wolf, Sergej Nikolajewitsch. Ich bin Fahndungsleiter.«
    Er hielt ihm kurz ein aufgeschlagenes Mäppchen vor die Nase -Fandorin konnte lediglich das Wort »Hauptmann« lesen.
    »Kann ich reinkommen? Ich muss mit Ihnen sprechen.«
    Der Hauptmann tat einen Schritt nach vorn, so dass Nicholas instinktiv zurückwich und ihn durchließ.
    Während er die Schwelle überschritt, erklärte der Fahndungsleiter der Moskauer Kriminalpolizei fröhlich:
    »Bürger Fandorin, Ihre Angelegenheiten sehen bescheiden aus. Sie werden wohl bald die Radieschen von unten besehen.«
    Und er setzte ein Raubtierlächeln auf und zeigte seine spitzen, gelben Zähne.
    Dieses Grinsen ließ Nicholas unwillkürlich zwei weitere Schritte zurückweichen. Der Hauptmann beanspruchte das frei gewordene Territorium sofort für sich; er drehte den Kopf nach rechts und nach links, und aus irgendeinem Grund strich er mit dem Finger über den antiken, in einem Ebenholzrahmen steckenden Spiegel (Nicholas hatte ihn auf dem Arbat in der Zeit des Wohlstands vor der Wirtschaftskrise erstanden).
    »Ist das ein venezianischer? Ein Prachtstück!«
    »Wieso denn ein venezianischer? Das ist ein russischer, aus einer Moskauer Werkstatt«, stammelte Nicki. »Was für Radieschen? Was wollen Sie damit sagen?«
    »Wir müssen uns unterhalten«, flüsterte der Milizionär, wobei er den Hausherrn an einem Knopf festhielt – er hatte offenbar die schlechte Angewohnheit, alles mit den Händen anzufassen. »Jawohl, unterhalten.«
    Von dieser taktlosen Anfasserei und dem idiotischen Geflüster kam Fandorin endlich zu sich und wurde wütend. Aber nicht auf den späten Besucher, sondern auf sich selbst. Was war das für ein Unsinn? Warum wurde er, ein ehrlicher, gesetzestreuer Mann, eigentlich nervös, wenn ihn ein Milizionär besuchte, selbst wenn es sich um einen von der Kriminalpolizei handelte?
    »Wer braucht diese Unterhaltung?«, fragte er unfreundlich und entfernte die Hand des Hauptmanns von seiner Brust. »Warum haben Sie nicht vorher angerufen, zumal bei einem so späten . . .«
    »Sie brauchen sie«, unterbrach ihn Wolf. »Vor allem Sie sind es, die sie brauchen. Kann ich reinkommen?«
    »Kommen Sie rein, wenn Sie schon einmal hier sind.«
    Nicholas betrat als Erster das Wohnzimmer.
    Ob er telefonieren dürfe, fragte der Hauptmann erst gar nicht,

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