Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Federmann

Der Federmann

Titel: Der Federmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Bentow
Vom Netzwerk:
Morgenmantel, zog die Vorhänge auf, dann kochte er Kaffee. Er setzte sich an den Küchentisch und nippte an seiner Tasse. Schließlich zwang er sich, etwas zu essen, er beschmierte eine Scheibe Brot mit Margarine und strich Marmelade darauf. Lustlos begann er zu kauen, es schmeckte ihm nicht. Er schnüffelte an seinem Pyjama, er machte einen leichten Schweißgeruch aus, und das durfte nicht sein, also zog er sich nackt aus und schlurfte ins Bad.
    Lange stand er unter der Dusche, am liebsten hätte er sich am Boden zusammengekauert, er wusste selbst nicht, woher diese Traurigkeit kam.

    Er überlegte, welcher Tag heute war, es musste wohl ein Samstag sein, wenn er sich nicht täuschte. Samstag, dieser kreischend fröhliche Familientag, man ging einkaufen für die ganze Familie und plante den Wochenendausflug.
    Er hatte keine Familie, würde keinen Ausflug unternehmen, viele Stunden galt es totzuschlagen.
    Er stellte das Wasser ab und zog sich an. Wählte ein frisches Hemd und eine neue Hose. Man durfte sich nicht gehen lassen.
    Danach setzte er sich wieder in die Küche und schaute zum Fenster hinaus. Wenn er den Kopf verrenkte, konnte er über dem Dach vom Hinterhaus einen Fetzen Himmel erkennen.
    Genau in diesem Fetzen kreiste ein Vogel, hoch oben, die Schwingen ausgebreitet, wie ein Bussard. Gab es Raubvögel in der Stadt?
    Er musste die Augen zusammenkneifen, um besser sehen zu können. Manchmal flimmerte es in seinem Blickfeld, das machte ihm Angst. Vielleicht war das der Vorbote einer bösen Krankheit.
    Lange Zeit hockte er da, den Kopf in den Nacken gelegt, in den kleinen Ausschnitt vom Himmel starrend.
    Da klingelte es an seiner Tür.
    Er erschrak.
    Besuch?
    Das musste ein Irrtum sein. Er bekam doch niemals Besuch.
    Reklame, dachte er, diese Werbefritzen, die ihre Zettel durchstecken.
    Es klingelte ein zweites Mal.

    Nach einigem Zögern erhob er sich. Er blickte durch den Türspion und stellte fest, dass der Besuch bereits im Treppenhaus war.
    Er öffnete. Vor ihm stand ein Mädchen, es mochte etwa zehn Jahre alt sein. Das Erste, was ihm an ihr auffiel, war ihr schönes, dichtes blondes Haar, dann die wachen blauen Augen.
    Sie hielt eine Postkarte in der Hand und schaute ihn fragend an.
    Er straffte seine Schultern, man hatte ihn oft wegen seiner schlechten Haltung kritisiert. Er reckte auch das Kinn, denn seine geringe Körpergröße war ihm nicht selten als Handikap erschienen.
    Er fand das Mädchen hübsch, und mit einem bewundernden Blick registrierte er, dass sie ein schönes Kleid trug, eines für die besonderen Anlässe, das Samstag-Sonntag-Kleid.
    Er wartete darauf, dass sie etwas sagte, aber sie sah ihn nur an, und schließlich räusperte er sich und fragte: »Ja, bitte?«
    Es war mehr ein Krächzen. Mit Sicherheit waren es die ersten Worte, die er seit Tagen gesprochen hatte, er war aus der Übung, man musste öfter sprechen, um die Stimme geschmeidig zu halten. Es gab Menschen, die sprachen am Tag vielleicht an die hunderttausend Wörter, er hatte bestimmt in seinem ganzen Leben noch nicht so viele von sich gegeben, keine langen Sätze, keine munteren Wortkaskaden.
    Endlich holte das Mädchen tief Luft, wedelte mit der Postkarte in ihrer Hand und fragte: »Wohnt hier nicht Paula?«
    Er war verblüfft.

    Natürlich wohnte hier keine Paula, der einzige Mensch, der in diesen vier Wänden lebte, war er selbst, und das war traurig genug, aber das Mädchen sah so entzückend aus, dass er nachfragen musste: »Paula?«
    »Paula, ja. Sie feiert heute ihren Geburtstag.« Wieder wedelte sie mit der Postkarte in ihrer Hand. »Das ist ihre Einladung.«
    »Oh.«
    Er hörte seiner eigenen Stimme zu. Das Krächzen war weg.
    »Oh«, sagte er gleich noch einmal. »Paula.«
    Sie runzelte die Stirn.
    Er kratzte sich am Kopf.
    Sie schwiegen eine Weile. Im Treppenhaus war es sehr still, niemand schien mehr auf dieser Welt zu sein, nur das Mädchen, das zu Paula wollte, weil Paula doch Geburtstag hatte, und er selbst.
    »Paula, natürlich«, sagte er. »Komm doch rein.«
    Er registrierte ihr Stirnrunzeln, ein langes Zögern.
    Umso überraschter war er, als sie den Fuß über die Türschwelle setzte.
     
    »Nils, kannst du noch einen Augenblick bleiben?«
    Stuhlbeine scharrten auf dem Linoleum. Die Mitarbeiter der Fünften Mordkommission verließen nacheinander den Konferenzraum. Zwei Stunden lang hatten sie ihre Ergebnisse zusammengetragen. Seit der Entdeckung der Leiche gestern Vormittag waren sie ununterbrochen im

Weitere Kostenlose Bücher