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Der Federmann

Der Federmann

Titel: Der Federmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Bentow
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»Er schlägt meine Mutter.«
    Da begann das Mädchen plötzlich zu weinen. Er zögerte kurz, dann legte er den Arm um das Mädchen.
    Lene zuckte zurück. »Lass das, ich soll mich nicht von Fremden anfassen lassen.«
    Er nahm den Arm schnell wieder weg.
    Stattdessen holte er dem Mädchen ein Taschentuch. Er zog es aus einer zerknüllten alten Zellophanhülle hervor, es
war zwar noch frisch, aber nicht mehr ganz glatt. Das Mädchen nahm es trotzdem und putzte sich die Nase.
    Sie ist allein, dachte er, ganz allein auf der Welt. Wie gut er das verstand.
    »Gib her«, sagte er, »ich werfe es für dich weg.«
    Er hielt ihr die Hand hin, damit sie ihm das benutzte Taschentuch gab.
    »Aber das ist eklig.«
    »Nein, nein, das ist nicht eklig.«
    Sie reichte ihm zögernd das Taschentuch, und er steckte es ein. Er setzte sich wieder neben sie.
    Sie warf ihm einen kritischen Blick zu. »Du wolltest es wegwerfen.«
    »Ich heb es für dich auf.«
    Sie runzelte die Stirn.
    Dann schwiegen sie eine Weile. Es war nicht unangenehm, neben ihr zu sitzen und zu schweigen. Sein Herz klopfte stark, er fühlte sich wohl.
    Auf einmal zog Lene ein Foto aus der Tasche ihres Kleids hervor. Sie zog alles hervor, was sich darin befand, zwei Schlüssel an einer Schnur, sicherlich Haustür- und Wohnungsschlüssel, einen Streifen Kaugummi, einen kleinen Plastikanhänger, der aussah wie ein Monster mit dickem Bauch, vermutlich eine Figur aus einem Comicfilm, den er nicht kannte, und schließlich das Foto. Sie strich es glatt und zeigte es ihm.
    »Das hier ist meine Mama.«
    Er beugte sich darüber und betrachtete es lange.
    Dann blickte er das Mädchen an.
    »Du hast das schöne Haar deiner Mutter«, sagte er.

    Und Lene strich sich mit der Hand durchs Haar, kindlich und kokett.
    Er musste lächeln.
    »Ja«, sagte er, »das bezaubernde Haar deiner Mutter.«
    Schließlich lächelte Lene auch.
    Dann wurde sie ernst.
    »Jetzt muss ich aber wirklich gehen«, sagte sie und steckte das Foto wieder ein. Sie sammelte auch den Schlüssel, das Monster mit dem dicken Bauch und den Streifen Kaugummi ein.
    Es versetzte ihm einen Stich.
    »Bleib doch noch«, sagte er.
    »Meine Mutter wird sich wundern.«
    »Aber du bist doch eigentlich bei Paula. Und so ein Geburtstag ist lang.«
    »Nein, nein, ich muss gehen.«
    Sie stand auf. Er sah an ihr herab.
    »Bleib«, sagte er ein wenig zu laut.
    Er spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte.

FÜNF
    W enn Lene nach Hause kam, zog sie instinktiv den Kopf ein. Dabei war sie nicht besonders groß, und die Decken in der Wohnung waren nicht allzu niedrig.
    Sie schlich sich durch den Flur. Die Tür zum Wohnzimmer war geschlossen, Lene drückte das Ohr dagegen. Wenn der Mann da war, den ihre Mutter »Erzeuger« nannte, wurde die Luft knapp, und die Zimmerdecken schienen sich herabzusenken.
    Und richtig, sie hörte seinen dumpfen Bass. Sie hörte auch ihre Mutter, sie klang ein wenig angesäuselt. Ansonsten war ihre Mutter in Ordnung. Solange der Erzeuger nicht zu Besuch kam, ging es ihr gut.
    »Ich will aber nicht«, rief die Mutter hinter der Tür.
    »Hab dich nicht so.«
    »Lass das, Bernd.«
    »Du bist doch eine –«
    Das nächste Wort wurde von einem Keuchen verschluckt.
    »Nein, hab ich gesagt«, schrie die Mutter.
    Aus dem Keuchen wurde ein Husten.
    Der Erzeuger räusperte sich hinter der Tür.
    »Du bist doch wirklich eine gottverdammte Schlampe. Ich verfluche den Tag deiner Geburt.«

    »Dann hau doch endlich ab.«
    »Und ich verfluche den Tag, als diese Mistgöre zur Welt kam.«
    »Bernd!«
    Flaschen klirrten. Lene hielt den Atem an.
    »Sag das nicht noch mal, Bernd.«
    »Mistgöre. Ein peinlicher Unfall.«
    »Unfall? Du nennst deine Tochter einen Unfall?«
    »Eine Katastrophe.«
    »Du widerlicher –«
    Weiter kam die Mutter nicht, eine Ohrfeige knallte. Und dann kamen die Geräusche, die Lene am meisten fürchtete, es waren die Geräusche, die der Erzeuger von sich gab, wenn er der Mutter weh tat. Einmal war Lene ahnungslos ins Schlafzimmer gekommen, und da hatte sie die Mutter mit dem Erzeuger gesehen, wie ein Knäuel war sie mit ihm verheddert, das Knäuel hatte Spinnenbeine, und der Kopf der Spinne war rot, in dem Kopf steckten die Augen der Mutter, die sahen sie an, und schon begann die Spinne zu schreien, aber Spinnen schrien doch nicht, Spinnen waren eklig, und Spinnen waren stumm.
    »Geh weg, Lene, geh weg«, schrie der Spinnenkopf.
    Lene verschwand von der Tür.
    In ihrem Zimmer warf sie sich aufs Bett

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