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Der Federmann

Der Federmann

Titel: Der Federmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Bentow
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und presste Jo an sich. Jo war ihre Stoffschildkröte. Mit Jo konnte sie fliehen, weit weg. Jo lebte nämlich eigentlich auf einer Insel, und zu dieser Insel nahm er sie mit. Dazu mussten sie schwimmen, Jo war ein guter Schwimmer, sie brauchte sich nur ganz fest an seinen Panzer zu klammern, und schon konnte es losgehen. Draußen vorm Fenster war der dunkle Hinterhof,
da standen die Mülltonnen, aber wenn man die Augen schloss, kam gleich dahinter das Meer. Jo schwamm mit ihr fort. Jo ließ sie nicht im Stich.
    Sie durchpflügten das offene Meer, und bald erreichten sie den Strand, dort gab es Palmen und Kokosnüsse und keinen Erzeuger.
    Im Nebenzimmer, wo die Mutter weinte und schrie, wusste niemand etwas von dieser Insel. Sie lag mit Jo am Strand und war in Sicherheit: kein Erzeuger, der sie einen Unfall nannte oder eine Katastrophe. Türkisfarbene Wellen warfen sich an den Strand, schaukelten, plätscherten, am Himmel gab es fliegende Fische und bunte Papageien.
    Jo war ein Held.
    Sie war beinahe schon eingeschlafen, als die Mutter zu ihr ins Zimmer kam.
    Lene schlug die Augen auf.
    »Ist er weg?«, fragte sie.
    Die Mutter nickte.
    Sie hatte eine Schwellung im Gesicht, die Augen waren rotgerändert.
    »Und wie war es bei Paula?«
    Die Mutter strich ihr das Haar aus der Stirn.
    Lene drückte Jo noch fester an sich.
    »Wie war die Geburtstagsfeier?«
    Sie wollte schnell zurück an den Strand, aber wenn die Mutter dabei war, ging es nicht.
    »Nun sag schon, wie war es?«
    »Schön«, murmelte Lene und drehte sich auf die Seite.
    Endlich wünschte ihr die Mutter eine gute Nacht und verließ das Zimmer.

    Es war Montag am Spätnachmittag, Trojan starrte die Tatortfotos an der Wand an: das blutgetränkte Laken, den zerfetzten Vogel, die schwarz verkrusteten Augenhöhlen, leblos und starr, den beinahe kahlen Schädel der Toten. Dann betrachtete er das Bild von Coralie Schendel, das ihr Freund einige Monate vor ihrem Tod aufgenommen hatte, es zeigte eine junge Frau mit langem dichtem blondem Haar, blitzenden Augen und einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen.
    Trojan stieß die Luft aus.
    Vor ihm auf dem Tisch lag ein angebissener Döner Kebab, den ihm Gerber vom Türken an der Ecke mitgebracht hatte.
    Trojan nahm ihn und kaute lustlos daran herum. Sein Blick wanderte zu der Großaufnahme der Verletzung am Hals, dann zu dem Fetzen Kopfhaut über der linken Schläfe. Plötzlich begann er zu würgen. Nicht kotzen, dachte er, nicht jetzt.
    Er schlang den Bissen hinunter und versuchte eine Weile mit geschlossen Augen weiter zu essen, aber das half auch nichts. Angewidert wickelte er die Reste in die Alufolie und schob den Döner beiseite. Er nahm einen großen Schluck aus der Mineralwasserflasche und schaute auf seine Liste.
    In fünf Minuten musste er den nächsten dieser unzähligen Hinweisgeber aus der Bevölkerung vernehmen. Weitere drei Namen standen auf der Liste, das könnte also mindestens noch eine Stunde dauern.
    Er sah zur Uhr.
    Mit einem Mal zuckte er zusammen, fluchte leise und blätterte in seinem Terminkalender.
    Unter Montag, zehnter Mai, achtzehn Uhr, fand er einen
Kringel vor, nur einen Kringel mit drei Strichen daneben, das war sein geheimes Kürzel für eine Therapiesitzung, falls Gerber mal einen Blick in seinen Kalender warf.
    Er sprang auf und ging ins Nebenzimmer. Ronnie saß am Tisch, vor ihm eine ältere Dame, die wild gestikulierend auf ihn einsprach, an seinem Gesichtsausdruck war zu erkennen, dass sich auch deren Hinweis als wenig fruchtbar erwies. Sie steckten einfach fest. Verdammt, sie steckten fest.
    »Ronnie, kannst du mal einen Augenblick kommen?«
    Ronnie Gerber entschuldigte sich bei der selbsternannten Zeugin und trat zu Trojan hinaus auf den Gang.
    »Ronnie, ich schulde dir eine Einladung zum Bier, ach, was sag ich, zu drei Bieren, wenn du meine nächste Vernehmung übernimmst.«
    »Nils, das geht nicht.«
    »Ich weiß, ich weiß, aber es ist ungeheuer dringend.«
    »Wir sind doch alle überarbeitet hier, da kannst du dich nicht einfach verdrücken.«
    »Es ist wirklich überlebensnotwendig.«
    »Verdammte Scheiße, was soll das?«
    Er war laut geworden.
    »Bitte, Ronnie, nur dieses eine Mal.«
    Gerber runzelte die Stirn und sah ihn lange an.
    »Okay, hau ab, Nils«, sagte er schließlich.
    »Du bist echt ein Kumpel.«
    Gerber verschwand wieder im Vernehmungszimmer und knallte die Tür zu. Trojan holte seine Jacke und stürmte aus dem Gebäude.
    Mit zehnminütiger Verspätung stand er

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