Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
von der Bindungsperson zurückziehen würde, wäre es in Lebensgefahr. Bis zum Alter von etwa 14 Jahre sind Menschenkinder nämlich „Nesthocker“, also so lange abhängig von ihren Bindungspersonen.
6.4 Die Rolle von Dissoziation bei Bindungstraumata
Wie schafft ein vernachlässigtes und misshandeltes Kind es also, die Bindung zum Elternteil aufrechtzuerhalten, obwohl es so schlecht behandelt wird? Die Antwort lautet: Indem es dissoziiert, also seine Gedanken, Gefühle und Erfahrungen nicht in einen kontinuierlichen Bewusstseinsstrom einspeist und zusammenhängend abspeichert, sondern Erfahrungs- und Erlebnisteile voneinander trennt und getrennt abspeichert. Das geht nur, indem das Kind immer wieder in Trance geht. Schwere dissoziative Zustände wurden verschiedentlich als entscheidende Komponente der Borderline-Störung identifiziert (Ross 2007; Skodol et al. 2002; Wildgoose et al. 2000).
Nun zum Thema Bindungsverrat: Die Forschergruppe um Jennifer Freyd unterscheidet solche Hochstresserfahrungen, die wenig zwischenmenschlichen Verrat enthalten (low betrayal) wie Unfälle zum Beispiel, von Traumata mit „mittlerem“ oder „hohem“ Anteil an Bindungsverrat (medium or high betrayal). Beide beinhalten Erfahrungen, durch andere Menschen attackiert und geschädigt worden zu sein. „Medium betrayal“ bedeutet, von jemandem angegriffen und verletzt worden zu sein, der einem „nicht nahesteht“; „high betrayal“ bedeutet, von einem nahestehenden Menschen gequält worden zu sein. Jennifer Freyds Arbeitsgruppe hat zu allen drei Formen von Ereignissen einen Fragebogen entwickelt, den BBTS. Bei jedem von zwölf möglichen Ereignissen kreuzten die Befragten an, ob sie „nie“, „ein- oder zweimal“ oder „öfter als zweimal“ stattgefunden haben. Zusätzlich füllten die Teilnehmer einen Borderline-Fragebogen (BPI) aus. Befragt wurden insgesamt 749 Teilnehmer einer Langzeitstudie an Hausbesitzern einer bestimmten Region der USA; das Durchschnittsalter betrug 50 Jahre, 57 % der Antwortenden waren weiblich. Und die Ergebnisse waren eindeutig:
Abbildung 6: Anzahl der Traumatisierungen und Höhe des Borderline-Koeffizienten bei Frauen (Kaehler & Freyd 2011)
Je mehr Traumatisierungen, desto höher die Borderline-Werte. Allerdings: Nur die Bindungs-Traumatisierungen sind bei Frauen signifikant, die Traumata mit niederigem zwischenmenschlichem Verrat (z. B. Unfälle) nicht (Kaehler & Freyd 2011). Bei Männern war der Zusammenhang übrigens bei allen drei Traumatisierungsarten signifikant.
Was sagt uns eine solche Studie? Sie ist ein weiterer Beleg dafür, dass einschneidende Erfahrungen, vor allem die Erfahrung von Gewalt in der Kindheit, und da wiederum vor allem die von nahen Bindungspersonen ausgehende Gewalt, die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht, eine Borderline-Störung zu bekommen. Übrigens kreuzten mehr als zweieinhalbmal so viele Frauen wie Männer an, von einer nahen Bindungsperson Gewalt erlebt zu haben (high betrayal).
Unterregulation = Überreagieren und Überregulation = Unterreagieren
Eine holländische Studie zeigt exemplarisch, dass nicht nur Borderline-Symptome, sondern auch somatoforme, also körperliche Störungen, die sich nicht oder nicht ausreichend auf eine körperliche Erkrankung zurückführen lassen, sowie die Art der Gefühlsregulation eines Menschen von der Gewalt durch nahe Bindungspersonen abhängen (Van Dijke et al. 2010). Wenn der Stress überschwellig wird, kann unser Gehirn entweder mit Über- oder mit Unterregulation von Gefühlen und Körperempfindungen reagieren (Briere 2006).
Überregulation wird erreicht, indem Hirnareale massiv blockiert werden, die sonst einen Gefühlssturm auslösen würden. Das Ergebnis dieser Blockade: Man fühlt sich benommen, emotional abgeschaltet, wie ein Roboter, eingefroren und unfähig, zu anderen Nähe herzustellen. Die Unterregulation hat den gegenteiligen Effekt: Bestimmte Hirnareale werden durch den Stress ungehemmt stimuliert, was zu Überwältigungsgefühlen führt und zu Krampfzuständen, Schreckhaftigkeit, automatischen Fluchtreaktionen, impulsiven und selbstschädigenden Handlungen und der Schwierigkeit, emotional intensive Zustände zu regulieren. Von den untersuchten 472 PsychiatriepatientInnen berichteten im Schnitt zwei Drittel von Gewalt durch primäre Bindungspersonen. Bei Patienten mit somatoformen Störungen traf das auf etwa 50 % zu, bei Patienten hingegen, die sowohl eine Borderline- wie eine somatoforme Störung
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