Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
geschlechtsspezifischer Effekt auf: Rund drei Viertel der Diagnostizierten und vier Fünftel der Behandelten sind Frauen. Daher wurde immer schon spekuliert, was wohl die Gründe für diese so weitverbreitete schwere Störung sein könnten. Schon seit Längerem gilt als wissenschaftlich belegt, dass die Borderline-Störung auf dem Boden unsicherer Bindungserfahrungen gedeiht (siehe Levy 2005). Besonders der ängstliche Bindungsstil ist bei Borderlinern weitverbreitet: Sie sehnen sich nach Nähe, während sie gleichzeitig große Angst vor Verletzungen oder Zurückweisungen durch andere Menschen haben. Außerdem haben weit überdurchschnittlich viele BPD-PatientInnen einen sogenannten „ungelösten und besorgten (unresolved and preoccupied)“ Bindungsstil. Das bedeutet: Sie wünschen sich eine nahe Bindung, haben aber große Befürchtungen, vom anderen Menschen abhängig zu werden.
Bereits im Säuglingsalter kann man am unsicheren, besonders aber am desorganisierten Bindungsstil eines Kindes erkennen, ob es ein besonderes Risiko hat, eine Borderline-Störung zu entwickeln; das konnten verschiedene Studien zeigen (Carlson, Egeland & Sroufe 2009; Lyons-Ruth et al. 2005; Rogosch & Cicchetti 2005). Ein sogenannter desorganisierter Bindungsstil ist gekennzeichnet durch gleichzeitig oder kurz hintereinander gezeigtes, gegensätzliches Verhalten: sich der anderen Person nähern und sie vermeiden. Bei späteren Borderlinern äußert sich dies auch in einem inneren Hin- und Hergerissensein, was Gedanken, Gefühle und Handlungen angeht. Diese Bindungsunsicherheit wird natürlich besonders dann erzeugt, wenn ein Kind vernachlässigt oder misshandelt wird. Wie kommt das?
Ein von der primären Bindungsperson (hier: Mutter) misshandeltes Kind muss innerlich hin- und hergerissen sein zwischen zwei biologischen Reflexen, dem sogenannten Bindungs- und dem Verteidigungssystem. Das Bindungssystem sagt: „Geh hin zu Mama und tu in jedem Fall alles dafür, dass du nicht verlassen wirst.“ Das Verteidigungssystem sagt: „Das, was die Mama macht, tut dir überhaupt nicht gut. Nichts wie weg hier.“ Es ist klar, was im Zweifel bei einem kleinen Kind siegen wird: das Bindungssystem. Aber da das Verteidigungssystem auch eine biologische Notwendigkeit ist – wir wollen weg von etwas, das uns schmerzt –, wird das Kind dissoziieren. Es wird in Trancezustände gehen, geistig-seelisch „weggehen“, wo es das körperlich nicht kann. Das Kind wird also immer wieder mitten in der Bewegung erschlaffen, wird auf die Mama zulaufen – und sich auf halbem Wege seitwärts wegdrehen. Wird gefühlsmäßig starke Zuneigung und Hingezogensein spüren – und irgendwo da drinnen einen tiefen Kummer haben. Auf Dauer wird das Kind diese widersprüchlichen Gefühle entweder vollkommen abspalten; dann gibt es einen Zustand oder Anteil, in dem das Kind „hemmungslos liebt“, und einen anderen Zustand oder Anteil, in dem es „nichts fühlt und sich nur zurückzieht“. Oder es wird noch beides spüren; dann wird es die Gefühlsverwirrung so unerträglich finden, dass es sich insgesamt mehr und mehr aus dem Kontakt mit der Mutter zurückzieht.
Bei bis zu 90 % der Borderline-Persönlichkeiten wurde eine Geschichte von Misshandlungen in der Kindheit gefunden (Zanarini et al. 1997); schätzungsweise zwei Drittel bis drei Viertel erlebten in der Kindheit sexualisierte Gewalt (Battle et al. 2004). Das bedeutet: Bindungstörung und Kindheitstrauma sind (wie an den meisten anderen schweren seelischen Störungen) ursächlich beteiligt an der Entwicklung einer schweren Persönlichkeitsstörung wie Borderline. Die amerikanische Forscherin Jennifer Freyd hat bereits in ihrem 1996 erschienenen Werk „Betrayal Trauma“ darauf hingewiesen, dass der Bindungsverrat, also das Ausliefern, Verlassen und Misshandeln eines Kindes, das existenziell abhängig ist von seinen Bindungs-Personen, in dem Kind ein äußerst ambivalentes Beziehungsverhalten erzeugt: Biologisch wäre es wichtig, dass das Kind erkennen kann, dass und von wem es so schlecht behandelt wird, damit es zukünftigen Bindungstraumatisierungen vorbeugen kann. Doch das Bindungssystem erzwingt vom Kind, dass es auf jeden Fall in der Nähe der Bindungsperson bleiben und möglichst dafür sorgen muss, dass die Bindungsperson auch in seiner Nähe bleibt! Also muss das Kind den Teil von sich unterdrücken, der das Böse im Elternteil entdecken könnte, um Bindung aufrechterhalten zu können, denn wenn es sich
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