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Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)

Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)

Titel: Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Huber
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die nett zu mir war. Und die andere, die eben nicht nett zu mir war. Das habe ich mir ganz oft so vorgestellt. Und dann bin ich immer in die Küche gegangen, um zu gucken, welche von den beiden Müttern gerade da war.‘ Schon als Dreijährige ist sie das erste Mal von zu Hause weggelaufen“ (ebd., S. 44).
    Und was wird aus einem solchen Kind, wenn es nicht weglaufen kann bzw. wenn es nicht später so hart an sich arbeitet, um sich zu verändern? Eine Langzeitstudie (Sousa et al. 2011) zeigt: Wenn gefährdete Jugendliche daheim bei den Eltern bleiben, werden sie mit geringerer Wahrscheinlichkeit dissozial. Doch wenn die Eltern Täter an ihnen sind, können sie und wollen sie auch nicht bleiben.
    Die Pubertät ist der Zeitpunkt, an dem das Kind aus dem Zwang des Bindungssystems aussteigen und sich zum ersten Mal wehren kann (siehe „Andreas“ Aussage über ihre Zeit als 16-Jährige). Je mehr ein/e Jugendliche/r aber dissoziiert, desto weniger wird sie oder er ihre aggressiven Attacken selbst verstehen. Der Instinkt, sich zu wehren und abzuwenden, zu rebellieren, wird dann von vielen Mädchen gegen den eigenen Körper gerichtet, der – insbesondere bei sexualisiert gequälten Mädchen – gerade in dieser Phase der Entwicklung (bauch-)schmerzlich an das Trauma erinnert.
    Aber auch sexualisiert gequälte Jungen richten die Gewalt eher direkt gegen ihren Körper als Jungen, die keine sexuelle Gewalt erlebt haben. Bei beiden Geschlechtern, aber ganz besonders bei Mädchen und Frauen, kommt es als Folge der sexualisierten Gewalt also zu massiven Attacken gegen den eigenen Körper, der mit Hungerkuren, Appetitzüglern (Amphetaminen), Fressattacken, herbeigeführtem Erbrechen und allen anderen Arten von Selbstverletzungen traktiert wird (s. Farber 2002). Jungen entfernen sich in der Pubertät ohnehin meist weiter und endgültiger von den primären Bindungspersonen; daher gelingt es auch mehr sexuell gequälten Jungen, sich in dieser Zeit besser von zu Hause zu lösen. Sie erinnern ihre Qualen öfter (man erinnert sich aber besser an Prügel als an sexuelle Gewalt) und sind eher gefährdet, in die Dissozialität abzugleiten. Auch hier zeigt sich wieder: Vom Opfer zum Täter zu werden ist oft nur ein kleiner Schritt. Deshalb sollten wir uns immer freuen, wenn es Jungen – und Mädchen! – gelingt, ihre erlittenen Qualen nicht gegen andere zu richten.
    Frauen richten also die Gewalt eher nach innen, indem sie die Täter-Opfer-Situation in jeweils abgespaltenen Selbst-Anteilen wiederholen. Den daraus folgenden inneren Druck wenden sie meist gegen sich, indem sie sich selbst verletzten. Wenn sie gegen andere aggressiv werden, dann meist gegen Schwächere: ihre eigenen Kinder – wobei sie auch da meist zwei Arten von Zuständen haben: eine freundliche und eine eher täterimitierende oder täterloyale – sowie gegen ihren Partner oder ihre Partnerin.
    Und was wird aus den (sexuell) gequälten Jungen, von denen ein Teil (siehe  Interview 9 mit Karl Heinz Brisch  und  Interview 11 mit Frank Urbaniok ) zum Täter werden kann?

7. Die Gewaltkarriere sexuell ausgebeuteter Jungen [1]
    Sexuell traumatisierte Jungen ähneln in ihren Reaktionen eher Mädchen mit einer vergleichbaren Trauma-Geschichte und nicht so sehr ihren Geschlechtsgenossen, die keine sexualisierte Gewalt erlebt haben. Sie dissoziieren viel mehr als Jungen, die andere Formen von Gewalt oder Vernachlässigung erlebt haben, und entwickeln – wie Mädchen – eher eine Essstörung. Es gibt allerdings einen Unterschied: Sexuell traumatisierte Jungen werden häufiger zum Täter, während die Gewaltspirale sich bei den Mädchen mehr in Richtung (weiteres) Opfer dreht.
    Etwa ein Drittel bis die Hälfte aller erwachsenen Sexualtäter (zu 90 % sind das Männer) geben auf Befragung zu, dass sie schon als Kinder „sexuell auffällig“ waren (Deegener 1998). Und tatsächlich werden viele Jungen bereits in sehr jungem Alter sexuell misshandelt. Und viele von ihnen sind dann auch auffällig. Von den Auffälligen wird ein Teil (schätzungsweise ein Drittel bis gut die Hälfte) selbst zum Täter. Und umgekehrt: Mindestens zwei Drittel der Kinder, die vor dem zwölften Lebensjahr sexuell auffälliges Verhalten zeigen, waren vorher Opfer sexualisierter Gewalt (Burton et al. 1999, Friedrich & Luecke 1988, Gil & Johnson 1994). Die Zahl der Sexualstraftaten von Jugendlichen hat sich laut internationaler Studien im Zeitraum der frühen 1990er-Jahre bis in die ersten Jahre des

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