Der Feind im Spiegel
obwohl er merkte, wie es ihm das Herz zusammenschnürte. Mit den Augen bedeutete er ihr, Ruhe zu bewahren. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als an ihre gemeinsame Vergangenheit und an ihr Leben zu denken und daraus die nötige Kraft zu schöpfen.
»Ich muß leider mit«, sagte er. »Wird schon alles werden.«
Die Angst in ihren Augen war nicht zu übersehen, und doch schaffte sie es, Joe mit ruhiger Stimme zu fragen: »Entführst du mir meinen Mann, Sheriff?«
»Reine Routine, Mrs. Ericsson. Reine Routine.«
»Wenn du meinst.«
»Ja, natürlich.«
»Also muß ich keinen Anwalt anrufen.«
»Das ist Ihr gutes Recht, Maa’m, aber ich glaube nicht, daß es nötig ist.«
»Wenn du meinst.«
»Ja, natürlich, Maa’m.«
Sie trat auf ihren Mann zu und gab ihm einen flüchtigen Kuß auf den Mund. Er umarmte sie und flüsterte: »Wenn’s Probleme gibt, weißt du, was du zu tun hast.« Sie nickte. Sie wußte, daß in Boston ein Bankfach mit Geld und Papieren auf sie wartete, wenn es nötig sein sollte. Als er ihr den kleinen vergoldeten Schlüssel übergeben hatte, den sie auch als Kettenanhänger tragen konnte, mußte sie ihm hoch und heilig versichern, daß sie im Ernstfall nur an sich und die Kinder denken würde. Aber er hatte auch betont, daß eine neuerliche Flucht reiflich überlegt sein wollte. Ihre Papiere waren praktisch hieb- und stichfest. Niemand hatte ihre Fingerabdrücke. Sie sollte bei der verabredeten Version bleiben, daß sie sich vor fünf Jahren in New York kennengelernt und wenige Monate später in Las Vegas geheiratet hätten. Falls seine wahre Identität durch die Fingerabdrücke enthüllt werden würde, sollte sie dabei bleiben, daß sie von dem Teil seines Lebens nichts wisse. Mit seinem Blick erinnerte er sie an ihr Versprechen. Sie kannten sich so gut, daß sie sich auch ohne Worte verständigen konnten.
»Bis heute abend, Schatz«, sagte er. »Ich fahr zur Arbeit, wenn die Sache mit Joe geregelt ist. Er wird mich bestimmt hinfahren.«
»Stets zu Diensten, mit einem Lächeln«, sagte Joe, aber seine Augen lächelten nicht.
Anna sah John in die Augen, winkte ihm zu und lächelte. Er war erleichtert. Sie hatte verstanden. Er ging zu dem Polizeiwagen und setzte sich auf den Rücksitz. Die Hintertüren ließen sich nicht von innen öffnen. Als sie außer Sichtweite des Hauses waren, wandte sich der junge Beamte um.
»Her mit den Händen.« John sah die Handschellen.
»Joe?« sagte er.
»Wir befolgen nur die Vorschriften, John. Streck die Hände aus.«
Die Handschellen klickten, sein Zorn wuchs, aber mit dem Zorn kam auch die Kaltblütigkeit, die nötig war, damit die Ohnmacht, die er im Augenblick empfand, durch jenen Lebenswillen ersetzt werden konnte, der Vuk bisher auch in den gefährlichsten Situationen gerettet hatte. Eine Möglichkeit gab es immer. Schlupflöcher boten sich überall. So war es bislang gewesen, und den Gedanken, es könnte diesmal anders sein, ließ er nicht zu. Er konnte ihn sich einfach nicht leisten.
Das Distriktgefängnis war zum Bersten gefüllt. Es war ein relativ neues Gebäude mit großen offenen Zellenbereichen. In jeder Zelle gab es vier Pritschen, aber in jeden dieser sterilen, kalten Räume waren mindestens zwanzig Personen gepfercht. In der Ecke stand eine Toilette aus rostfreiem Stahl ohne Brille. Hinter den schweren Gitterstäben drängelten sich Männer jedes Alters und jeder Hautfarbe, er hörte Russisch, Bulgarisch und Serbokroatisch, aber am meisten Spanisch. Es war ein Querschnitt der Illegalen, die in den USA ihren Traum hatten verwirklichen wollen. Es roch nach Schweiß, Urin und Tabakrauch, der in den Kleidern hing. Vor allem nach Angstschweiß, wie er ihn vom Schlachtfeld kannte oder von den Gefangenen, die zum Verhör geschleppt wurden und die wußten, daß der Schmerz in wenigen Minuten den Mittelpunkt ihres Lebens bilden würde. Hier würde es keine Folter geben, aber die Angst ließ auch die Unschuldigen schwitzen, weil ihnen die Ausweisung bevorstand. Weil all das Geld und die Energie, die sie aufgewendet hatten, um Amerikas Küsten zu erreichen, dann umsonst gewesen wären. Sie waren Gefangene in einem nicht erklärten Krieg. Oder eher unschuldige Opfer, die das Pech gehabt hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Sie dienten der reichen Gesellschaft für einen schäbigen Lohn in der Hoffnung, ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen zu können, und jetzt mußten sie fürchten, daß der Traum vorbei
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