Der Feind in deiner Nähe
schreiend auf ihn loszugehen.
»Halten Sie sich von ihr fern«, sagte ich noch einmal und ließ ihn dann stehen.
Wieder im Büro, schob ich meinen Finger unter die gummierte Klappe des braunen Umschlags, den Rees mir auf den Schreibtisch geworfen hatte, und zog das oberste Foto heraus. Es zeigte Holly schlafend im Luigi’s. Er hatte es entweder ganz aus der Nähe aufgenommen oder ein Zoom benutzt. Sie lag halb mit dem Oberkörper auf dem Tisch, den Kopf in der Armbeuge, die Augen geschlossen. Wimperntusche und Lippenstift waren verschmiert; ihre Haut wirkte wächsern. Man konnte sogar sehen, dass ihr ein wenig Speichel aus dem halb offen stehenden Mund lief. Der Gedanke, dass Holly dieses Foto jemals zu Gesicht bekäme oder auch nur von seiner Existenz wüsste, war mir unerträglich. Schaudernd schob ich es zurück in den Umschlag, den ich ganz hinten in der untersten Schublade des Aktenschranks versteckte.
Um halb zwölf bog ich auf die Baustelle südlich des Flusses ein.
Trotz Hollys vager Angaben war sie ziemlich leicht zu finden gewesen. Ich fragte einen massigen Mann mit einer fleckigen Nase, ob er mir sagen könne, wo Anthony Manning zu finden sei.
»Tony?«
»Ja, Tony.« Ich bemühte mich um einen möglichst geschäftsmäßigen Ton, als würde ich erwartet.
»Der ist nicht da. Am Donnerstag ist er nie da. Das ist sein Klubtag.«
»Klubtag?«
»Golf. Kunden belabern.«
»In welchem Klub ist er denn da?«
»In Kingston.«
»Oh. Danke.«
Ich überlegte schon, ob ich aufgeben und einfach ins Büro zurückkehren sollte. Schließlich hatte ich es wirklich versucht.
Mehr konnte niemand von mir erwarten. Am Ende fuhr ich natürlich doch nach Kingston und erfragte mir den Weg zum Golfklub. Als ich schließlich dort ankam, versuchte ich so auszusehen, als würde ich mich ständig in Golfklubs herumtrei-ben. An der Bar, wo die Leute Gin Tonic tranken, fragte ich nach Anthony Manning, woraufhin ein Mann in einem hässlichen braunen Cordanzug nach draußen deutete und erklärte, er sei auf dem Platz.
Ich bestellte mir einen Tomatensaft, wurde aber darüber aufgeklärt, dass an dieser Bar nur Mitglieder etwas zu trinken bekämen. Und als ich mich daraufhin einfach in die Ecke setzen und auf ihn warten wollte, wies man mich darauf hin, dass sich in der Bar nur Mitglieder aufhalten dürften. Ich ging also zurück in den Eingangsbereich und blätterte in einem Katalog voller Bilder von karierten Hüten und Schuhen mit Quasten. Irgendwann hörte ich dann jemanden sagen: »Ja?«
Vor mir stand ein großer, kräftiger Mann, der mit dem Kleingeld in seiner Jackentasche klimperte. Wenigstens trug er nicht die dämlichen Klamotten, die die meisten Männer hier anhatten.
»Anthony Manning?«
»Ja.« Diesmal schwang in seiner Stimme eine Spur von Ungeduld mit.
»Ich bin Meg Summers, eine Freundin von Holly. Holly Krauss.« Er verzog keine Miene. Ich holte tief Luft. »Sie ist im Krankenhaus, es geht ihr gar nicht gut, und deswegen soll ich in ihrem Auftrag jemanden ausfindig machen. Um das mit ihren Schulden zu klären.«
Ein kleines Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Kümmert sie sich jetzt endlich darum?«
»Ja.«
»Und?«
»Wo finde ich ihn?«
»In seiner Hauptgeschäftsstelle.«
»Das klingt ja ziemlich nobel.«
»Es ist ein Laden in Kensington.« Er kritzelte eine Adresse auf einen Zettel und reichte ihn mir.
»Was für eine Art Laden?«
»Ach, man bekommt dort dieses und jenes«, antwortete er und wandte sich zum Gehen, fügte dann aber noch hinzu:
»Und versuchen Sie nicht, den Preis zu drücken. Er verhandelt aus einer Position der Stärke.«
Ich hatte das Gefühl, dass ich da nicht allein hinfahren sollte, weshalb ich Lola mitnahm. Dabei ist sie wirklich der letzte Mensch, den man mit einer Krisensituation belasten sollte. Sie ist klein, unschuldig, ängstlich und leichtgläubig. Aber sie vergöttert Holly. Ich wollte auch nur, dass sie draußen im Wagen sitzen blieb und auf mich wartete. Warum, konnte ich selbst nicht sagen.
Das Cowden-Brothers-Pfandhaus lag zwischen einem mit Brettern zugenagelten ehemaligen Reisebüro und einem Friseur.
Im Schaufenster waren ein Einrad, ein Saxophon, eine E-Gitarre, eine Standuhr und eine Menge Schmuck ausgestellt.
Auf einem kleinen Schild stand: KREDITE. GUTE KONDI-TIONEN. DISKRETION GARANTIERT. Als ich die Tür öffnete, ertönte eine laute Glocke. Hinter der Theke saß ein fetter Mann mit einem kleinen, zarten Gesicht. Er las eine
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