Der Feind in deiner Nähe
Abschiedsbrief geschrieben, und mich hatte sie anzurufen versucht, als sie im Sterben lag. Ich wollte, nein, ich musste versuchen, die Welt, in die meine Freundin zurückkehren würde, ein bisschen sicherer zu machen. Ich sah es einfach als meine Pflicht an. Eine schwere Pflicht, vor der ich mich aber nicht drücken konnte.
Todd setzte mich am Krankenhaus ab und wollte mich eine halbe Stunde später wieder abholen. Charlie war schon gegangen, aber Marcia Krauss arrangierte gerade einen großen Blumenstrauß in einem Krug. Hollys Mutter war noch jung –
schätzungsweise so um die fünfzig – und eigentlich ganz attraktiv, aber es war schwer, ihren Rechtschaffenheitspanzer zu durchdringen. Als ich sie ein paar Jahre zuvor kennen gelernt hatte, konnte ich gar nicht glauben, dass sie wirklich Hollys Mutter war. Später hatte ich begriffen, dass sie das Gegenteil von Holly verkörperte: ordentlich, vorsichtig, anständig, bescheiden, sparsam, tugendhaft, beherrscht und extrem ängstlich. Holly als Tochter zu haben muss ziemlich anstrengend für sie gewesen sein.
Ich küsste erst Marcia auf die Wange und dann Holly auf die Stirn. »Du siehst besser aus.«
»Lügnerin.«
Es stimmte aber. Sie wirkte immer noch ausgezehrt, und der blasser werdende Bluterguss an ihrer Wange gab ihrem Gesicht einen einseitigen Graustich, aber ihre Augen wirkten lebhafter, und sie sah insgesamt nicht mehr so mitgenommen aus.
»Hattest du heute viel Besuch?«
Holly ignorierte meine Frage.
»Wir haben gerade über Dad gesprochen«, erklärte sie.
»Du hast über ihn gesprochen«, widersprach ihre Mutter. »Ich nicht.«
»Ich wollte von dir wissen, wie er gestorben ist.«
Holly ging es definitiv besser, dachte ich. Zumindest schaffte sie es schon wieder, andere Leute in Verlegenheit zu bringen.
»Er hatte immer einen sehr anstrengenden Lebensstil«, antwortete Marcia.
»Mom«, sagte Holly. »Bitte hör auf, an den Blumen herumzu-zupfen, und sieh mich an. Bitte. Ich hab versucht, mich umzubringen.«
»Ich weiß«, murmelte ihre Mutter in die Rosen und Lilien hinein. »Deswegen bin ich ja hier.«
»Du hast es bisher aber noch mit keinem Wort erwähnt.«
»Ich bin hier, um dir zu helfen, über das alles hinwegzukom-men. Außerdem ist jetzt Meg da.«
»Meg hat damit kein Problem, oder? Du sagst doch immer, dass Dad genauso war wie ich. Ich möchte einfach nur wissen, ob er sich umgebracht hat.«
»Holly, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.«
»Wann dann?«
»Jedenfalls nicht jetzt.«
»Ich hab Recht, stimmt’s? Er war manisch-depressiv, und er hat sich umgebracht.«
»Das kann man so nicht sagen.«
»Es ist in meinem Blut. Ich habe es von ihm.«
»Hör auf!«
»Das ist doch nicht so schlimm«, sagte Holly. »Außerdem kannst du sowieso nichts dagegen tun.«
Sie ließ sich in ihr Kissen zurücksinken. Marcia griff nach ihrer Tasche, zupfte ein letztes Mal an dem Strauß herum und gab ihrer Tochter zum Abschied ein kleines Küsschen. »Gib Acht, dass du dich nicht überanstrengst.«
»Keine Sorge«, antwortete Holly. »Wird nicht passieren.«
Nachdem ihre Mutter gegangen war, sagte Holly zu mir:
»Ich wette, sie treibt Charlie in den Wahnsinn. Dabei würde sie viel lieber wieder nach Hause fahren, und mir wäre es auch lieber. Aber es wird von einer Mutter nun mal erwartet, dass sie sich um ihre kranke Tochter kümmert, und deswegen wird es auch so gemacht.«
Ich setzte mich auf die Bettkante, stibitzte Holly eine Traube und schob sie mir in den Mund. »Wann darfst du denn nun nach Hause?«
»Darüber lässt Dr. Thorne sich nicht so richtig aus. Er stellt mir weiterhin Fragen und meint, es gebe noch eine andere Behandlungsmethode, die er ausprobieren wolle.«
»Wie geht es Charlie?«
»Gut, glaube ich.«
»Kannst du mir sagen, wie ich diesen Poker-Mann finde? Wie war noch mal sein Name? Vic Norris?«
»Wie kommst du denn von ›Wie geht es Charlie?‹ so schnell auf dieses Thema?«
»Sag mir, wie ich ihn finden kann.«
»Warum? Außerdem weiß ich das selbst nicht so genau.«
»Wie hieß denn dieser andere Typ? Tony, oder?« Allmählich kam ich mir wirklich vor wie Hollys Gouvernante. Ich hatte das Gefühl, über die Einzelheiten ihres Lebens schon besser Bescheid zu wissen als sie selbst.
»Tony Manning. Warum?«
»Wo arbeitet er?«
»Keine Ahnung. Oder doch. Er hat gesagt, er baue einen neuen Wohnblock in der Nähe der Tate Modern. Anscheinend ist die Gegend groß im Kommen. Warum? Da ist nichts
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