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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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ein säuerliches Lachen aus. »Wieso sage ich eigentlich wie eine Irre? Aber als ich seinen Gesichtsausdruck sah, seine Wut und seine Verzweiflung, da spürte ich plötzlich auch noch einen gesunden Teil von mir, der sich schrecklich schuldig fühlte. Ich wusste, dass ich nie in der Lage sein würde, wieder gutzumachen, was ich da angerichtet hatte.
    Er könnte mich tausendmal anschreien und hinausstürmen, und es wäre trotzdem nicht einmal ein Bruchteil von dem, was ich ihm angetan habe, Tag für Tag und Woche für Woche. Es wäre besser gewesen, er hätte mich nie kennen gelernt.«
    »So etwas darfst du nicht sagen.«

    »Ich mache alles kaputt.«
    »Komm für eine Weile zu uns«, sagte ich unvermittelt in drängendem Ton, ohne selbst so recht zu wissen, warum. »Nur, bis sich die Lage ein bisschen entspannt hat. Geh nicht zurück nach Hause, Holly.«
    Sie grinste mich an. »Du sagst doch ständig zu mir, dass jetzt wieder alles gut ist. Bist du auf einmal nicht mehr dieser Meinung?«
    »Nur für eine Weile«, wiederholte ich.
    »Trink deinen Tomatensaft aus, meine Liebe«, erwiderte sie in sanftem Ton, »und dann sieh zu, dass du wieder an deinen Schreibtisch kommst.«

    36
    Ich sagte mir, dass Charlie trotz allem ein ziemlich lieber Mann war: kein Held, aber auch kein Bösewicht. Er hatte etwas mit Naomi, aber wer konnte ihm das verdenken, nach allem, was er durchmachen musste? Natürlich war es ein schmerzhafter Gedanke für mich, dass Holly nach Kräften versuchte, ihre Ehe zu retten, während Charlie diese Affäre hatte – falls es wirklich nur eine Affäre war. Auf jeden Fall würde ich ihr nichts davon erzählen. Ich wollte ihre Genesung nicht aufs Spiel setzen.
    Ich sah Holly mehrere Tage lang nicht, aber während ich an meinem Schreibtisch saß, versuchte ich mir vorzustellen, was sie sagen würde. Es war, als hätte ich neben meiner eigenen Stimme auch die ihre im Kopf. Ich rief sie an, um mich zu erkundigen, wie es bei ihr lief. Sie hörte sich gut an, sehr ruhig und entschlossen. Für Stuarts Prozess war ein Datum im Mai festgesetzt worden, und Holly meinte, sie habe wegen der ganzen Sache ein schlechtes Gefühl. »Irgendwie glaube ich immer noch, dass es meine Schuld war.«
    »Holly, er ist in dein Haus eingebrochen und hat dich angegriffen.«
    »Trotzdem.«
    »Mit dieser Einstellung wirst du im Zeugenstand nicht von großem Nutzen sein.«
    »Ich werde einfach sagen, was passiert ist. Nicht mehr und nicht weniger.«
    Sie erzählte mir, dass sie jeden Tag laufen und schwimmen gehe. Dreimal die Woche sei sie zur Therapie bei einer Frau in Muswell Hill. »Ich führe im Moment ein ziemlich narzisstisches Leben«, erklärte sie. »Ich konzentriere mich nur darauf, dass mein Körper wieder in die Gänge kommt und mein Geist heilt.

    Langweiliger geht’s nicht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich danach sehne, wieder zu arbeiten – etwas zu machen, das nichts mit mir selbst zu tun hat. Ich bin mir sicher, dass es mir schon jetzt gut täte, ins Büro zu gehen.«
    »Es dauert ja nicht mehr lange, bis du kommst«, meinte ich.
    »Es sind nur noch ein paar Wochen.«
    Ich fragte sie, wie es Charlie gehe, worauf sie antwortete, er sei inzwischen wieder »süß« zu ihr. »So etwas wie ein Liebesleben gibt es bei uns allerdings nicht mehr. Manchmal glaube ich, dass ich nie wieder Sex haben werde.«
    »Liegt es an den Pillen?«, fragte ich und fühlte mich dabei wie eine Verräterin.
    »Es liegt nicht an mir, sondern an ihm. Er hält mich für eine Invalide.«
    »Es ist wahrscheinlich einfach noch zu früh«, versuchte ich sie zu beruhigen.
    »Vielleicht kann ich ihn im Urlaub verführen. Ich werde über ihn herfallen und ein Nein einfach nicht gelten lassen.«
    »Wann fahrt ihr denn? Und wo wollt ihr überhaupt hin?«
    »Ich kann dir weder die eine noch die andere Frage beantworten. Charlie kümmert sich um alles. Er versucht, irgendein billiges Angebot zu ergattern.«
    »Ich besuche dich Anfang der Woche wieder, falls ihr bis dahin nicht schon weg seid. Am Wochenende ist doch dieses Event mit den staatlich geprüften Gutachtern.«
    »Ich wünschte, ich könnte dabei sein.«
    Sie klang richtig wehmütig. Es wäre so leicht gewesen zu sagen: »Dann komm doch jetzt einfach in die Arbeit.« Oder:
    »Setz die Medikamente ab, und sei wieder, wie du warst, mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt.« Ich zwang mich zu einer vagen Antwort, bemühte mich dabei aber um einen möglichst fröhlichen

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