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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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gegeben hätte, die das Wasser aufgehalten hätten, aber es konnte sich ungehindert ausbreiten, und das Schiff sank …«
    »Die Titanic? Wovon um alles in der Welt redest du?«

    Während der Besprechung bemühte ich mich, einen möglichst professionellen, wachen Eindruck zu machen. Ich verfügte über alle nötigen Fakten, notierte mir die Vorschläge unserer Kunden und versicherte ihnen, dass das kommende Wochenende zu ihrer vollsten Zufriedenheit ablaufen würde. Jedes Mal, wenn sich jemand zu Wort meldete, wandte ich mich dem oder der Betreffenden mit einem aufmerksamen Lächeln zu. Ich schaffte es sogar, gegenüber dem selbstgefälligen Vorstandsvorsitzenden der Pharmafirma freundlich zu bleiben.
    »Teamaufbau«, sagte er gerade und strich sich übers Kinn.
    »Ein Gefühl für gemeinsame Ziele, intellektuelle Abenteuer, gegenseitiges Vertrauen und gemeinsame Interessen, das vereinte Ziehen am gleichen Strang. Genau das brauchen wir hier.«
    Oder eine Gehaltserhöhung, dachte ich. Und einen neuen Chef. »Und genau dafür sind wir da«, sagte ich.
    »Ein Kollege hat Sie mir empfohlen. Er hat erzählt, am Ende der zwei Tage habe seine ganze Firma vor Enthusiasmus nur so gesprudelt. Das möchten wir auch.«
    »Sprudeln«, sagte ich. »Wir werden unser Möglichstes tun.«
    Ich hörte eine unserer Praktikantinnen ein Husten unterdrücken und warf ihr einen warnenden Blick zu.
    Als der Mann ging, verabschiedete ich mich mit einem festen Händedruck und meinem freundlichsten Lächeln.

    *
    »So«, sagte Meg und reichte mir meinen Mantel. »Zeit für einen Kaffee.«
    »Wir können doch auch hier einen trinken. Wir haben so viel zu –«
    »So leicht kommst du mir nicht davon. Lass uns ins Luigi’s gehen, da können wir in Ruhe reden.«
    Wir gingen die Straße bis zu dem dunklen kleinen Café hinunter, dessen Inneres mit seiner gedämpften Beleuchtung und den zischenden Espressomaschinen die Wärme und Gemütlichkeit einer Bootskajüte ausstrahlte.
    »War ich zu dem Typen von gestern Abend recht eklig?«, fragte ich. »Wie war noch mal sein Name?«
    »Todd«, antwortete Meg. »Ich glaube, ein bisschen erschreckt hast du ihn schon.«
    »Obwohl er eigentlich ziemlich nett wirkte.«
    »Ja, recht nett«, bestätigte Meg in beiläufigem Ton. Ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie errötete heftig und wandte sich ab. »Was ist gestern Abend noch passiert?«, fragte sie nach einer kurzen Pause. »Das ist das Thema, über das wir eigentlich reden wollten.«
    Ich betrachtete ihr weiches, rundes Gesicht, das mir mit seinem Kinngrübchen und dem lockigen Wuschelhaar immer so edwardianisch erschien. Wie sollte sie jemals verstehen können, was ich getan hatte? »Oh, du weißt schon. Es hat sich einfach noch eine Weile hingezogen.« Als ich einen Schluck von meinem Kaffee nahm, verbrannte ich mir die Oberlippe, aber der Schmerz war mir in dem Moment sehr willkommen.
    »Vielleicht hatte ich am Ende ein bisschen zu viel Alkohol intus.«
    »Am Ende?«
    »Du bist meine Freundin, nicht meine Mutter. Ich hatte Spaß, das ist alles.«
    »Bist du noch woandershin gegangen?«
    »Ja, wir sind –« Ich hielt abrupt inne. Ich wusste weder, wer
    »wir« waren noch wo wir hingegangen waren. Ich bekam kein klares Bild von dem Abend zusammen, durch meinen Kopf wirbelten nur verschwommene Bruchstücke: ein dunkler Raum voller Leute, ein Flussufer, splitterndes Glas, ein Taxi, ein Fiebertraum auf einem Bett. Sich wälzende Körper. Ich rieb mir die Schläfen, um die Bilder zu vertreiben.
    »Ja?«

    Ich schüttete meinen Kaffee hinunter und stellte die Tasse mit einer energischen Bewegung ab.
    »Willst du das wirklich hören, Meg? Die Wahrheit ist nämlich, dass ich mich an das meiste nicht mehr so genau erinnern kann.«
    »Weil du so betrunken warst?«
    »Ab einem bestimmten Zeitpunkt wurde das Ganze ein bisschen wie ein Traum. Du weißt schon.«
    »Wann bist du zu Hause gewesen?«
    »Ich komme mir wirklich vor wie ein Teenager«, bemerkte ich. »Kurz vor sechs.« Das war gerade mal fünf Stunden her, dachte ich. Wie konnten fünf Stunden so langsam vorüberkrie-chen?
    »Kurz vor sechs? Mein Gott, Holly, wie kannst du dich da noch auf den Beinen halten? Was hat Charlie gesagt?«
    »Nicht viel. Er hat geschlafen, und dann war es schon wieder Zeit für mich, in die Arbeit zu gehen.«
    »Hat er kein Problem damit?«
    Ich musste an Charlie denken, wie er auf dem Küchenboden gekauert und vorsichtig die Teile der Tasse aufgesammelt hatte, die

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