Der Feind in deiner Nähe
zurück. Als ich aus dem Laden trat, begann es heftig zu regnen, sodass ich sofort klatschnass war. Ich hoffte, dass er meine Geschichte geschluckt hatte und das Geld nicht der Polizei übergeben würde.
Als ich die Wohnung betrat, rief ich nach Charlie, aber es kam keine Antwort. Ich packte erst mal meine Einkäufe aus, dann warf ich einen Blick in sein Arbeitszimmer. Er war nicht da, obwohl das Radio lief und im ganzen Raum ein schreckliches Chaos herrschte. Papierbogen lagen über den Boden verteilt, Bücherstapel waren umgekippt, unter dem Stuhl und dem Zeichenbrett lugten überquellende Aschenbecher hervor, und überall, wo noch ein bisschen Platz gewesen war, türmten sich CD-Stapel, zum Teil ebenfalls kurz vor dem Umkippen. Den Skizzenblock auf seinem Schreibtisch zierte eine feine, mit Bleistift gezogene Linie, die in einer kunstvollen Kritzelei endete. Daneben standen fünf halb ausgetrunkene Teetassen und ein Teller mit den braunen Kerngehäusen zweier Äpfel und der Schale einer Satsuma. Und auf dem Fensterbrett thronte die Tasse, die ich an diesem Morgen hatte fallen lassen. Ich nahm sie genauer in Augenschein: Dort, wo Charlie sie geklebt hatte, war nur noch ein hauchfeiner Riss zu sehen.
Nachdem ich den Raum verlassen und die Tür hinter mir zugezogen hatte, überlegte ich, ob ich jetzt schon ins Bett gehen sollte. Wahrscheinlich würde ich dann nie wieder aufwachen.
Also schlüpfte ich stattdessen in eine alte Jeans und eins von Charlies farbverklecksten T-Shirts und machte mich an die Arbeit. Ich schaltete im Erdgeschoss sämtliche Lampen ein und schwang dann die Trittleiter in die Mitte des Gangs, um auf beiden Seiten die Tapete wegkratzen zu können. Ich hatte mit dieser mühsamen Arbeit schon vor Monaten begonnen, kurz nachdem wir hier eingezogen waren, fand dann aber nie die Zeit, mein Werk zu vollenden. Es ist schon seltsam, wie man sich daran gewöhnen kann, in einer halb fertigen Wohnung zu leben, umgeben von herabhängenden Tapetenfetzen und nacktem Verputz.
Und so fand Charlie mich vor, als er eine Dreiviertelstunde später in seiner schönen weichen Wildlederjacke, die ich ihm gekauft hatte, zur Tür hereinkam. Ich stieg von der Leiter und küsste ihn auf die Augenlider, woraufhin er mich, staubig, wie ich war, in die Arme nahm und meinen schmerzenden, müden, treulosen Körper fest an sich drückte.
»Eins würde mich wirklich interessieren: Wo nimmst du bloß diese ganze Energie her? Kann ich bitte was davon abhaben?«
In diesem Moment hätte ich einen Schritt zurücktreten, ihm in die Augen sehen und sagen können: »Gestern Nacht, Charlie, ich weiß nicht, warum und mit wem, aber ich hatte Sex mit einem Fremden.« Eine kleine Welle der Erregung durchlief meinen Körper. Es war wie ein Schaudern, ausgelöst durch unerbittliche Kälte oder ein wohliges Gruseln.
Ich erwiderte sein Lächeln, strahlend wie die Unschuld in Person. »Große Entscheidung. Chinesisch, indisch oder thailändisch?«
Später hatten wir Sex miteinander, machten Liebe, vögelten. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, denn eigentlich wollte ich nur noch die Augen schließen und schlafen, schlafen, schlafen, aber das konnte ich Charlie nicht sagen. Nicht nach allem, was passiert war. Als er auf diese besondere Weise zu lächeln begann, lächelte ich zurück. Und als er mich in den Arm nahm, schlang ich ebenfalls die Arme um ihn, zog ihn an mich und murmelte in sein Ohr. Und die ganze Zeit hatte er keine Ahnung, dass ich gar nicht da war.
5
Während ich in der U-Bahn schwankend zwischen zwei korpulenten, schwitzenden Männern stand, überkam mich plötzlich ein Gefühl existentieller Freiheit. Es gab kein Naturge-setz wie beispielsweise die Schwerkraft, das mich zwang, zur Arbeit zu gehen und weiter den ausgetretenen Pfaden meines alten Lebens zu folgen. Ich konnte mit der U-Bahn weiterfahren, am Leicester Square in Richtung Heathrow umsteigen, irgendeinen Flieger nehmen und den Rest meines Lebens nicht mehr nach England zurückkehren. Allerdings musste ich vorher noch mal nach Hause, um meinen Pass zu holen. Und was war mit Geld? Alles, was ich besaß, steckte im Haus fest. Als Investition war das wohl in Ordnung, aber ich hatte definitiv ein Liquiditätsproblem. Eine Auslandsreise brachte zusätzliche Schwierigkeiten mit sich. Die Vorstellung von der existentiellen Freiheit war wahrscheinlich zu einer Zeit erfunden worden, als Visa noch keine Rolle spielten und man in den Ankunftshallen der Flughäfen
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