Der Feind in deiner Nähe
nicht gleich darüber ausgequetscht wurde, wie lange man bleiben wolle und ob man vorhabe, sich einen Job zu suchen. Die Freiheit hatte ihre Grenzen, genauso wie die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung.
Ich verließ also doch den Zug, fuhr die Rolltreppe hinauf und trat in einen grauen, nieseligen Morgen hinaus. Ich musste an Charlie denken, der noch zu Hause im Bett lag, und fragte mich, ob er heute wohl etwas zu arbeiten hatte. Ich beschloss, ihn anzurufen, durchwühlte meine Tasche aber vergeblich nach meinem Handy. Im Büro eingetroffen, suchte ich dort weiter, ebenfalls ohne Erfolg. Ich überlegte krampfhaft, wann ich es das letzte Mal benutzt hatte, konnte mich aber nicht erinnern. Am Vortag hatte ich nur vom Büro aus telefoniert. Es lag also entweder zu Hause, oder ich hatte es irgendwo verloren, höchstwahrscheinlich an meinem Filmriss-Abend. Womöglich war es gestohlen worden, aber vielleicht hatte es ja auch ein normaler Mensch gefunden und an sich genommen. Ich bringe schon mein ganzes Leben damit zu, Dinge fallen zu lassen oder zu verlieren. Ich glaube nicht, dass ich jemals einen Schirm länger als eine Woche besessen habe. Mein Hab und Gut –
Geldbörsen, Sonnenbrillen, Schlüssel, Hüte, einfach alles, was nicht dauerhaft an meinem Körper befestigt werden kann – ist über die ganze Welt verstreut. Das gehört zu den Vorteilen eines Handys: Eine Sonnenbrille kann man nicht anrufen und fragen, wo sie sich gerade befindet. Ich wählte also meine eigene Nummer, und nachdem es ein paarmal geklingelt hatte, ging ein Mann ran. »Sie haben mein Telefon«, stellte ich fest.
»Aber nicht gestohlen«, entgegnete er und begann dann zu lachen, als hätte er einen besonders lustigen Witz gemacht.
»Das habe ich ja auch nicht behauptet«, fuhr ich fort. »Ich glaube, ich habe es in einem Pub oder Klub in Soho liegen lassen.«
»In einem Pub oder Klub?«
»Ich kann mir Namen nicht besonders gut merken«, erklärte ich. »Es war entweder in einem Pub in der Wardour Street oder
… gleich um die Ecke gibt es einen Klub, er heißt … irgendwas mit House.«
»Das Red House.«
»Genau«, sagte ich. »Dann war es wohl dort. Tut mir Leid, dass ich Sie deswegen belästigen muss. Ich lasse es überall liegen. Könnten Sie es mir irgendwie zukommen lassen? Oder soll ich einen Kurier bei Ihnen vorbeischicken?«
»Wo arbeiten Sie?«
»In Soho.«
»Dann ist es von mir aus nur ein Katzensprung. Ich bringe es Ihnen in der Mittagspause vorbei.«
»Das wäre phantastisch.«
»Ist mir ein Vergnügen.«
»Haben Sie es dabei? Oje, das war jetzt eine sehr dumme Frage.«
»Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, was ich damit machen soll.«
»Nun ist das Problem ja gelöst.«
Ich nannte ein Café in der Dean Street, ein Uhr, dann legte ich auf und stürzte mich in die Arbeit. Die Liste, die ich mir gemacht hatte, war zwei Seiten lang: Es galt, Telefonate zu führen, Briefe zu schreiben, Besprechungen abzuhalten, Verschiedenes zu organisieren und wichtige Entscheidungen zu treffen. Und ein paar gute Ideen brauchte ich auch noch. Mir blieb keine Zeit für andere Gedanken oder Gefühle. Ich reagierte einfach auf das, was vor mir lag, tat, was zu tun war, und wandte mich dann dem nächsten Punkt zu. Dinge und Personen schoben sich in mein Gesichtsfeld und verschwanden wieder daraus.
Irgendwann blickte ich hoch und stellte fest, dass es schon zehn nach eins war. Benommen sah ich mich um. Meine Liste war unter einer Reihe von Pfeilen, Notizen und Strichen verschwunden. Mein Schreibtisch war leer, zumindest im übertragenen Sinn, und alles ordentlich abgeheftet oder mittlerweile das Problem von jemand anderem. Was noch übrig war, schob ich zu einem Stapel zusammen, den ich in mein Fach legte. Ich rief Meg zu, dass ich schnell weg müsse.
Ich sah ihn, als ich das Café betrat. Er war ein großer, kräftiger Mann mit hochgekrempelten Hemdsärmeln. Seine Jacke hing über der Rückenlehne seines Stuhls. Sein dichtes dunkles Haar trug er sorgfältig nach hinten gekämmt. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Handy. »Mein Telefon, nehme ich an«, sagte ich ohne irgendeine Einleitung.
Er stand auf und streckte mir lächelnd die Hand entgegen, aber als ich sie schüttelte, ließ er sie nicht wieder los, sondern drückte weiter meine Finger.
»Hallo, Holly«, sagte er. »Meine schöne Holly.«
Die Erkenntnis kroch wie ein kleines Insekt in mein Gehirn.
Ich konnte fast spüren, wie es sich einen Weg in den vorderen Teil
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