Der Feind in deiner Nähe
sich die größten Vorwürfe machen würde. Ich hatte eigentlich beschlossen, keinen Abschiedsbrief zu schreiben, aber nun überlegte ich es mir in letzter Minute doch anders. Ich griff nach einem Stift, holte mir aus dem Wohnzimmer einen Zettel und dachte kurz nach. Wie sagt man jemandem, dass einem etwas Leid tut, obwohl man weiß, dass man es durchziehen wird? Wie verabschiedet man sich? Ich wollte nichts von ihr und Charlie schreiben, sodass mein Brief am Ende sehr kurz ausfiel: »Meine liebe und treue Meg«, schrieb ich. »Es tut mir so Leid. Wirklich sehr, sehr Leid. Ich möchte nur, dass das alles aufhört. Vergib mir, meine beste und einzig wahre Freundin. In Liebe, Holly.«
Ich legte den Brief auf den Küchentisch und begann die Tabletten zu nehmen, immer zwei auf einmal, mit einem großen Schluck Apfelsaft und dann, als der aus war, mit Orangensaft.
Es ging ganz schnell und leicht. Als ich schließlich in die Diele trat, fiel mir auf, dass Charlies Schlüssel am Haken hingen, und einen Moment lang fragte ich mich, wie er am Abend in die Wohnung kommen wollte. Dann stieg ich langsam die Treppe hinauf und legte mich auf mein Bett. Dabei fiel mir ein, wie gewissenhaft ich heute Morgen die Decke glatt gestrichen hatte und was für eine Zeitverschwendung das gewesen war. Außerdem ging mir durch den Kopf, wie blöd es doch war, dass ich letzte Nacht so gut geschlafen hatte wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr und ob es mir dadurch jetzt schwer fallen würde einzuschlafen.
Ich versuche mich umzudrehen, aber mein Körper ist träge und schwer. Ich versuche, an etwas zu denken, an irgendetwas Schönes draußen in der Welt oder vielleicht aus meiner Vergangenheit. Ich denke an einen Berg und Sonnenschein, aber der Berg beginnt zu bröckeln und zerbricht in Stücke, und die Stücke beginnen hinunterzufallen und werden dabei weich und matschig und dann dunkel und klebrig. Das Sonnenlicht wird schwächer, und die Welt wird kalt und dunkel und grau, und das Grau wird schwarz, und die Sonne … die Sonne …
Ich befinde mich ganz unten auf dem Boden einer tiefen, tiefen Grube. Um mich herum bewegen sich schemenhafte Gestalten.
Sie kommen auf mich zu. Um mich herum ist Bewegung. In mir spüre ich nur Übelkeit, eine langsame, rollende, schreckliche Übelkeit. Bald wird sie nachlassen, bald wird es vorbei sein.
Dann passiert etwas. Ich sehe das Gesicht meines Vaters. Er starrt mich an. Er lacht nicht, wie er es in meiner Kindheit so oft getan hat … jenes unverschämte, ausgelassene, fröhliche Lachen. Aber er weint auch nicht, er weint keine Tränenströme, die die ganze Welt hinwegspülen werden. Nein. Er sieht mir nur ganz zärtlich in die Augen. Sieht direkt in mich hinein, aber das macht mir nichts mehr aus. Ich bin endlich nackt.
» Oh, Daddy « , sage ich oder versuche es zu sagen, aber ich bin inzwischen weit davon entfernt, sprechen zu können. Die Worte fallen von mir ab, und ich weiß, dass ich im Begriff hin, in die Stille einzutauchen. Ich spüre, wie mein schönes, schreckliches Leben sich auflöst: seine Worte, Bilder, Klänge, Erinnerungen.
Ich lasse eines nach dem anderen los: Wasser, das durch meine Hände rinnt.
Ich sage mir: » Holly, nun hast du losgelassen, und du fällst, und bald wird es vorbei sein. Die einzige Hölle ist das Leben. «
Und in dem Moment, nicht mehr weit von der Dunkelheit entfernt, verspüre ich plötzlich ein schmerzhaftes Bedauern.
Schlagartig taucht vor meinem geistigen Auge eine Szene auf –
so real, dass ich wirklich wieder dort bin.
Ich befinde mich irgendwo im Ausland und sitze mit Meg in einem Hafenrestaurant. Wir haben so lange zu Abend gegessen, dass die Sonne schon ganz tief steht. Unseren Tisch bedecken Teller mit leeren Muschelschalen, Flaschen, Krüge, Aschenbecher. Damals rauchten wir beide. Die Sonne fällt in einem so ungewöhnlichen Winkel ein, dass wir bis auf den Grund des Wassers sehen können, das so klar ist wie blaues Glas. Zwischen den Seilen, mit denen die Fischerboote angebunden sind, tummeln sich Schwärme kleiner Fische. Sowohl Meg als auch ich tragen ein Kleid. Meins kann ich nicht sehen, aber das von Meg ist hellblau und schmiegt sich eng an ihre Brust. Sie beugt sich kichernd vor, aber ich bin plötzlich ganz ernst geworden.
» Ich werde diesen Moment aufbewahren « , sage ich. » Wie in einer Flasche. Dann kann ich ihn immer hervorholen, und er wird mir helfen, die dunkelsten Momente meines Lebens zu überstehen. « Sie hat ihre
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