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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Ort finden, an dem sie sich wohl fühlte.
    Jetzt aber lag sie ganz friedlich da. Völlig still und ohne jemandem Probleme zu machen: Charlie nicht, mir nicht und auch nicht den Krankenschwestern im Empfangsbereich, von denen mich eine zu diesem Bett geführt und leise die Vorhänge zugezogen hatte, damit ich ungestört war. Hinter den Vorhängen lauerten all die Gerüche und Geräusche einer Krankenhausstation, aber hier neben ihrem Bett herrschte Ruhe. Ich war direkt aus dem Büro hergefahren, gleich nachdem der Anruf kam, und hatte alles in dem Chaos zurückgelassen, das Holly während der letzten Wochen angerichtet hatte. Mit vereinten Kräften hatten wir versucht, einen Teil ihrer Aktionen wieder rückgängig zu machen. Manchmal bereitete es uns sogar Schwierigkeiten nachzuvollziehen, was sie im Einzelnen getan hatte, ganz zu schweigen davon, warum. Aber kaum hatten wir einen verärger-ten Kunden besänftigt, war eine Sendung irrsinnig teurer Seidenstrümpfe aus Italien eingetroffen, und am nächsten Tag wurden zehn neue Bürostühle geliefert, die Rückenschmerzen vorbeugen sollten und dementsprechend teuer waren. Ich ging sämtliche Ausgaben der letzten Zeit durch und beglich die meisten der noch offenen Rechnungen. Ich führte ein nicht ganz einfaches Gespräch mit dem Leiter unserer Bank, und dann musste ich mich auch noch um den Architekten kümmern, der eines Morgens mit seinen zwei Assistentinnen auftauchte und uns hübsche Pläne vorlegte, wie wir unseren Arbeitsraum umgestalten könnten, indem wir Glasbalken einziehen und einen Schacht in das Stockwerk über uns durchbrechen ließen.
    Anscheinend hatte Holly behauptet, dass die Firma, die dort ihre Büros hatte, damit einverstanden sei.
    Ich begriff nicht, wie sie die Zeit gefunden hatte, während ihrer ohnehin schon ausgefüllten Arbeitstage ein solches Chaos anzurichten. Und nun lag sie so still vor mir. Ich beugte mich über sie und nahm ihre Hand, die blau geädert und kalt auf der Bettdecke lag. Wenn sie jetzt sterben, aus diesem todesähnlichen Schlaf hinübergleiten würde, dann würde mit ihr auch das Chaos sterben. All die Rastlosigkeit, die Wut und Qual, die sinnlose Erschöpfung, in die sie sich selbst und andere manövrierte, würde verschwinden. In meinem Hinterkopf spukte ein Gedanke herum, und ich zwang mich, ihn genau zu betrachten.
    Ein Teil von mir wollte, dass sie starb. Dass sie dem Ganzen ein Ende setzte und uns endlich in Ruhe ließ. Das musste Holly auch gedacht haben, als sie diese ganzen Pillen in sich hinein-stopfte: dass wir uns alle ihren Tod wünschten und erleichtert sein würden.
    Ich strich mit dem Daumen über die hervorstehenden blauen Adern an ihrem Handrücken. Sie roch nach Desinfektionsmittel und Erbrochenem. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und ihre Zunge sah ganz weiß aus. Sie schlug die Augen auf. Ihr Blick wirkte völlig leer. Einen Moment später machte sie die Augen wieder zu. Als Holly damals mit ihren verrückten Stiefeln ins Büro gestürmt kam, wusste ich sofort, dass ich ihre Freundin sein wollte. Sie hatte eine so faszinierende Art, und wenn ich etwas sagte, hörte sie mir derart aufmerksam zu, dass es mir fast schon unangenehm war. Ihre Freundin zu werden war ein bisschen so, als ob man mit einem Mann eine Affäre begann. Sie machte mir spontan Geschenke, rief mich mitten in der Nacht an, um mir zu erzählen, was ihr gerade eingefallen war, oder wurde von einer Sekunde auf die andere wütend, weil ich irgendetwas gesagt oder nicht gesagt hatte. Als wir einmal in Südfrankreich zusammen an einem Tisch saßen, Meeresfrüchte aßen, Wein tranken und aufs Meer hinaussahen, das in der Abendsonne wunderbar glitzerte, sagte sie, dass sie mich liebe.
    Ich weiß noch, dass ich rot wurde, beschwipst etwas stammelte und mich auf eine absurde Weise englisch fühlte, aber das störte sie nicht. Sie legte nur kichernd ihre Hand auf meine und erklärte, ich müsse nichts sagen, sie wisse schon, dass auch ich sie liebe und wir immer Freundinnen bleiben würden. Sie war das personifizierte Abenteuer.
    »Meg.«
    »Holly? Ich bin hier.«
    »Ich muss kotzen.«
    Ich riss die Vorhänge auf und rief nach einer Krankenschwester. Anschließend sah ich hilflos zu, wie Holly sich über eine Plastikschüssel beugte, sich mehrmals übergab und dann stöhnend nach Luft rang. Die Krankenschwester schien das ziemlich kalt zu lassen. Als Holly sich auf ihr Kissen zurücksinken ließ, wischte sie ihr mit einem Papiertuch über die

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