Der Feind in deiner Nähe
Gefühl unglaublicher Erleichterung durch meinen Körper flutete.
»Ich muss nicht. Ich kann es sein lassen.«
26
Es fühlte sich an wie eine kühle Hand auf meiner heißen, schweißnassen Stirn. Endlich hatte ich es mir eingestanden: Ich wollte tot sein.
Plötzlich konnte ich so klar denken wie seit Wochen nicht mehr, und ich verspürte, was meinen Entschluss betraf, nicht den geringsten Zweifel. Ich wollte keinen Schmerz, und ich wollte es auf eine möglichst saubere Art tun. Und ich wollte damit niemandem größeren Schaden zufügen als unbedingt nötig. Ich überlegte einen Moment, wie Charlie es wohl verkraf-ten würde, aber dann war mir plötzlich klar, dass er ohne mich besser dran wäre. Für ihn würde die Welt ein angenehmerer Ort sein, wenn es mich nicht mehr gab.
Hätten wir eine Waffe im Haus gehabt, dann hätte ich sie mir auf der Stelle in den Mund gesteckt und abgedrückt, aber mir fiel nichts ein, was ich stattdessen hätte verwenden können. Ich wollte mir nicht die Pulsadern aufschneiden. Ich wollte vom Tod wie ein erwarteter Gast willkommen geheißen werden und nicht mit einer kalten Klinge auf meiner Haut herumhacken.
Bestimmt war es kein Zufall gewesen, dass ich mir als Schau-platz für meinen großen Zusammenbruch die beliebteste Londoner Selbstmord-Location ausgesucht hatte. Wahrscheinlich hatte mich jener Geruch von Tod und Verzweiflung angelockt, der der Archway Road Bridge anhaftete. Die Leute reisten aus ganz England an, um von dieser Brücke zu springen, und ich hatte sie praktisch vor der Haustür. Ich hätte nicht mal einen Mantel anziehen müssen. Trotzdem war ich nicht in Versuchung. Meine Gründe waren absurd, fast schon ungezogen, so als ob ein Kind sich weigert zu essen, was auf seinem Teller liegt. Mittlerweile waren an der Brücke alle möglichen Zacken und Absperrungen angebracht worden, um Leute wie mich abzuschrecken, und ich bezweifelte, dass ich es schaffen würde, sie zu überwinden. Ich stellte mir vor, wie ich mich dabei verletzen und meine Sachen zerreißen würde. Noch schlimmer war – und das fand sogar ich ziemlich blöd –, dass ich schon mein Leben lang unter Höhenangst litt. Ich wollte langsam in den Tod gleiten, wie eine Schwimmerin, die von der Strömung ins Meer hinausgezogen wurde. Es sollte kein Horrortrip werden.
Ich hatte einen Termin bei Dr. Thorne. Charlie wollte mich begleiten, aber ich lehnte ab. »Schließlich«, meinte ich, »werde ich mich daran gewöhnen müssen, oder?«
Dr. Thorne hatte das Ergebnis meiner letzten Blutuntersu-chung vorliegen. Die Lithiumwerte seien ein wenig zu niedrig, deswegen werde er die Dosis erhöhen, erklärte er. Er schien guter Laune zu sein. Es war ein schöner, sonniger Morgen, und ich war seine erste Patientin an diesem Tag.
»Sie sehen schon ein wenig besser aus«, meinte er.
»Ich fühle mich auch schon besser«, log ich fröhlich. Ich hatte mir an diesem Tag besondere Mühe beim Anziehen gegeben und mich anschließend aufmerksam im Spiegel betrachtet, um sicherzustellen, dass meine Kleidung ordentlich aussah, meine Haare gebürstet waren und mein Lächeln überzeugend wirkte.
»Merken Sie irgendwelche Nebenwirkungen?«
»Nein«, antwortete ich. Da ich keinen übermäßig fröhlichen Eindruck erwecken wollte, fügte ich rasch hinzu: »Mein Mund ist ein bisschen trocken, und ich fühle mich leicht aufge-schwemmt. Aber es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte.«
»Großartig«, sagte Dr. Thorne. »Wenn Sie ein wenig mehr als üblich trinken, müsste der trockene Mund eigentlich besser werden.«
»Das mache ich.«
»Gut. Wie ist Ihre Stimmung?«
»Ich fühle mich viel ruhiger.«
»Es wird noch eine Weile dauern, bis das Lithium so richtig wirkt.«
»Ich weiß.«
»Und mit den Einnahmezeiten kommen Sie auch klar?«, fragte er.
»Ja«, antwortete ich, was natürlich auch wieder gelogen war.
Ich hatte meine Medikamente schon seit Tagen nicht mehr genommen. Mir war völlig schleierhaft, wieso Charlie das noch nicht gemerkt hatte.
»Gut.«
»Allerdings habe ich da ein kleines Problem«, sagte ich beiläufig.
»Was denn?«
»Charlie und ich überlegen, eventuell für ein, zwei Wochen wegzufahren. Wir müssen mal eine Weile allein sein. Ich weiß aber noch nicht genau, wo wir landen werden. Vielleicht finden wir ja ein Fleckchen, wo es uns besonders gut gefällt. Was mache ich, wenn mir da die Tabletten ausgehen?«
»Keine Sorge«, antwortete Dr. Thorne. »Ich verschreibe Ihnen einfach
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