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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Stirn und verschwand mit der Schüssel.
    »Fast wäre ich im Gefängnis gelandet«, sagte Holly leise.
    »Unsinn«, antwortete ich. »Das ist doch heute kein Verbrechen mehr.«
    »Was?«
    »Du weißt schon, wenn man versucht …«, ich wollte es nicht aussprechen, »… sich umzubringen.«
    Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie. Es klang fast wie ein Stöhnen. Ich musste mich nahe zu ihr hinunterbeu-gen, um sie verstehen zu können. Sie hatte Probleme, genügend Luft zu bekommen. »Hast du es schon gehört? Ich habe schon wieder etwas Schlimmes angestellt, nämlich diese schreckliche Skulptur durchs Fenster auf die Straße hinuntergestoßen. Sie hätte beinahe einen alten Mann erschlagen. Er hat die 999
    angerufen.« Einen Moment kam es mir so vor, als würden ihre müden Augen amüsiert aufblitzen. »Ich bringe ihn fast um, und zum Dank rettet er mir das Leben.«
    Sie schloss die Augen. Ich blieb schweigend neben ihr sitzen, drückte lediglich ihre Hand.
    »Dann ist Charlie gekommen«, fuhr Holly nach einer Weile im Flüsterton fort. »Der arme Charlie. Wahrscheinlich findet er, dass es mir recht geschieht.«
    Ich versuchte, ihre Worte ins Scherzhafte zu ziehen. »Es geschieht dir ja auch wirklich recht. Du hast schließlich etwas total Dummes getan.«
    Aber Holly sagte, immer noch mit geschlossenen Augen:
    »Es tut mir Leid, Meg. Es tut mir alles so Leid.«
    »Du brauchst dich nicht zu …«
    »Doch. Es tut mir Leid, so Leid. Ich habe alles kaputtgemacht.
    Einfach alles. Ich verdiene es nicht, noch am Leben zu sein. Mir ist schon wieder so schlecht.«

    »Soll ich noch mal die Krankenschwester rufen?«
    »Es ist doch gar nichts mehr übrig, was noch herauskommen könnte. Bis auf meine Innereien. Was für ein Schlamassel.«
    »Charlie ist unten, ein bisschen frische Luft schnappen. Soll ich ihn holen?«
    »Nein. Lass mich nicht allein. Lass mich bitte nicht allein.«
    Unter ihren Wimpern quollen Tränen hervor.
    Schweigend betrachtete ich ihr aufgedunsenes Gesicht, ihre Hände, die zitternd auf der Decke lagen. Ich schluckte, und als ich dann wieder den säuerlichen, kranken Geruch einatmete, sehnte ich mich danach, draußen in der kalten, sauberen Winter-luft zu sein. »Ich liebe dich«, sagte ich schließlich in etwas barschem Ton.
    »Ich hab versucht, dich anzurufen.«
    »Was?«
    »Als ich im Sterben lag. Ich hab versucht, dich anzurufen.«
    Ein Schauder lief wie eine kalte Welle der Erkenntnis durch meinen Körper. Nun würde ich niemals frei von ihr sein. »Du hast versucht, mich anzurufen?«
    Sie lächelte müde. Jedes Wort schien sie anzustrengen. »Die Leitung war tot. Du weißt ja, ich und Technik, die alte Geschichte. Ich hab dir einen Abschiedsbrief geschrieben. Das darfst du aber nicht Charlie sagen. Eigentlich hätte ich ihm einen schreiben sollen. Ich möchte ihm nicht unnötig wehtun.«
    »Was stand in dem Brief?«
    »Nicht viel. Hauptsächlich, dass es mir Leid tut. Die Polizei hat ihn nicht gefunden, und Charlie auch nicht. Vielleicht habe ich ja nur geträumt, dass ich ihn geschrieben habe. Ich hatte so eine Art Wachtraum, als ich im Sterben lag. Ich wusste, dass du dich schuldig fühlen würdest, aber es war nicht deine Schuld.
    Ich verstehe das mit dir und Charlie.«
    »Bitte? Das mit mir und Charlie?«

    »Mmm.«
    »Mein Gott, Holly. Heißt das, du hast wirklich geglaubt, dass wir … dass ich dazu fähig wäre …« Ich sprach den Satz nicht zu Ende. Stattdessen nahm ich ihre kalte Hand zwischen meine und rubbelte sie warm.
    »Es war meine Schuld«, sagte sie müde. »Ich habe alles zerstört.«
    Ich grinste sie an. In dem Moment hatte ich sie unglaublich gern. »Weißt du was? In einer Minute muss ich gehen. Weil nämlich draußen jemand auf mich wartet. Er hat mich hergefahren. Sein Name ist Todd, erinnerst du dich an ihn? Ich habe es dir nicht erzählt, weil es sein und mein Geheimnis war und wir es erst noch eine Weile für uns behalten wollten.«
    Holly schlug die Augen auf, die feucht glänzten. Sie starrte mich an. »Du bist wirklich nicht mit Charlie …?«
    »Nein.«
    »Du meinst, ihr habt nie …?«
    »Du bist meine beste Freundin. Das würde ich nie tun.«
    »Ich war mir so sicher«, sagte sie. »Ich dachte, ich hätte euch beide verloren, durch meine eigene blöde Schuld.«
    »Du warst in letzter Zeit ziemlich schwierig.«
    »Todd?«
    »Ja.«
    »Der Glückliche.«
    Ihre Stimme klang immer undeutlicher. Ich legte ihre Hand zurück auf die Decke und streichelte sie.

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