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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Beklemmun-gen. Es waren sowieso nicht mehr viele übrig. Man bekam sie immer nur in kleinen Mengen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, sagte der Arzt.
    Ich ging mit den Fläschchen in die untere Toilette, schüttelte sämtliche Pillen in die Kloschüssel, betätigte die Spülung und beobachtete, wie die ovalen Kapseln im Wasser umherwirbelten und dann verschwanden.

    Endlich war ich wieder mit mir selbst allein.
    Ich kehrte in die Küche zurück, trank den lauwarmen Tee und wusch die Tasse aus. Anschließend ging ich zur Haustür und trat, ehe ich es mir anders überlegen konnte, in den kalten Wind hinaus. Ich lief in den Park, in dem Charlie und ich uns an jenem schrecklichen Tag getroffen hatten. Ich drehte drei Runden, dann machte ich mich auf den Rückweg. Das letzte Stück joggte ich sogar, obwohl ich das Gefühl hatte, mich gleich übergeben zu müssen. Hinterher nahm ich ein langes Bad mit Lavendelsalz.
    Ich leerte drei Gläser Wasser. Dann legte ich die CD ein und lauschte den Flöten. Ich versuchte, mich auf meine innere Stärke zu konzentrieren. Mal sehen, was als Nächstes passieren würde.
    Ich hatte mir selbst den Krieg erklärt.

    Die scheußliche Angst kam ganz langsam, sickerte im Lauf des nächsten Tages immer mehr in mein Bewusstsein, bis ich sie in meinem Körper, meinem Blut spüren konnte.
    In der zweiten Nacht hörte ich draußen Geräusche, raschelnde Schritte. Ich stand auf und presste mein Gesicht an die Fenster-scheibe. Lauerte da draußen in der Dunkelheit jemand? Ich zog die Vorhänge zu und lehnte mich zitternd gegen die Wand. Nach einer Weile schlüpfte ich in meinen Bademantel und setzte mich auf die Bettkante. Ich überlegte krampfhaft, was ich jetzt tun sollte. Charlie rufen. Richtig. Er würde mir sagen, was zu tun war. Ich öffnete den Mund, und ein hoher, durchdringender Schrei kam heraus.
    »Charlie!«, rief ich. Dann noch einmal, so laut, dass mir der Hals wehtat: »Charlie, wo bist du?«
    Keine Antwort. Er war nicht zu Hause. Tränen quollen mir aus den Augen, und ich wischte sie mit dem Ärmel meines Bademantels weg.
    Plötzlich hatte ich keine Angst mehr. Nichts da draußen konnte so schlimm sein wie die Welt in meinem Kopf. Ich ging hinunter, öffnete die Hintertür und trat in den Garten hinaus.
    Das Gras fühlte sich unter meinen nackten Füßen nass und kalt an. Der Wind schlug mir ins Gesicht.
    »Dann kommt doch und holt mich!«, rief ich, so laut ich konnte. »Kommt schon, Rees oder Dean oder Stuart oder Deborah oder wer immer ihr seid! Es ist mir egal! Ihr würdet mir sogar einen Gefallen tun!«
    Ich schloss die Augen und wartete. Wenigstens würde nun bald alles vorbei sein. Dieses ganze schmutzige Geschäft namens Leben.
    »Nun kommt doch endlich!«, heulte ich, obwohl ich inzwischen wusste, dass dort draußen niemand war.
    Irgendwo ging ein Fenster auf.
    »Die meisten von uns versuchen zu schlafen!«, schrie eine Stimme.
    Ich schrie zurück, riss einfach den Mund auf und ließ diesen hohen, durchdringenden Ton hören.
    »Ach, steck doch deinen Kopf in einen Ofen!«, schimpfte die Stimme.
    Fick dich doch selbst, oder gib dir die Kugel, aber verpiss dich verpiss dich verpiss dich. Wo kamen die Worte her, von innen oder von außen? Ich steckte mir die Finger in die Ohren, aber die Worte wirbelten immer noch durch meinen Kopf. Ich stolperte zurück ins Haus. Der Saum meines Bademantels war klatschnass, meine Füße eiskalt.
    Ich sah zur Treppe, aber sie erschien mir zu steil. Mein Blick fiel auf das Telefon in der Diele, aber es war zu weit weg, und außerdem steckte im Hörer eine Stimme, die böse Sachen sagte, wenn ich ihn an mein Ohr hielt. Ich betrachtete meine Hände.
    Sie waren so durchsichtig, dass ich die blauen Adern und die Knochen erkennen konnte, die wie Klauen aussahen. Ich öffnete eine Schublade und starrte auf all die scharfen, silbern schim-mernden Messer, die mir mit ihren Wellenschliffklingen entgegenblitzten. Ich zog meinen Bademantel aus und blickte voller Ekel an meinem weißen, verbrauchten Körper hinunter.
    Ich fuhr mit den Fingern über meine schmerzenden Rippen und Brüste, bis hinauf zu meinem Hals. Dann ging ich in die Knie und legte meine Stirn auf den kalten Boden.
    »Ich kann nicht«, sagte ich. »Ich kann nicht ich kann nicht ich kann nicht ich kann nicht.«
    Ich kann nicht mehr.
    Und plötzlich hörte ich, wie aus dem Nichts eine freundliche Stimme sagte: Du musst ja nicht, Liebes.
    »Ich muss nicht«, sagte ich, diesmal laut, während ein

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