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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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so viele, dass es reicht. Wann soll es denn losgehen?«
    Es war so einfach.
    »Charlie ist gerade dabei, etwas zu organisieren«, erklärte ich.
    »Irgend so ein Last-Minute-Angebot. Ich hoffe, dass wir gleich morgen starten können, aber vielleicht zieht es sich auch noch ein, zwei Wochen hin. Und ich weiß auch noch nicht genau, wie lange wir weg sein werden.«
    »Sie Glückliche«, sagte Dr.
    Thorne, während er fleißig
    schrieb. »Ich hasse diese Jahreszeit. Es ist die beste Zeit für einen Urlaub.«

    Ich habe schon oft von Leuten gelesen, die sich aus einem Impuls heraus umgebracht haben, indem sie plötzlich aus einem offenen Fenster sprangen oder sich vor einen Zug warfen. Bei mir war es tatsächlich so, als würde ich einen heimlichen Urlaub vorbereiten. Es musste alles am nächsten Tag, einem Dienstag, über die Bühne gehen, weil Charlie da den ganzen Tag über weg sein würde, angeblich auf irgendeinem Kurs. Aber ich wusste natürlich, dass er log. Er erklärte mir, dass er nach dem Frühs-tück aufbrechen und erst am frühen Abend zurückkommen würde. Er wollte wissen, ob das für mich in Ordnung sei, worauf ich ihm lächelnd antwortete, dass ich mich schon viel besser fühle.
    Nach meinem Termin bei Dr. Thorpe ging ich einkaufen. Ich besorgte geräucherten Lachs und Schwarzbrot fürs Abendessen, obwohl ich wusste, dass ich keinen Bissen hinunterbekommen würde, und für Charlie neue Socken und Boxershorts, die ich ihm sauber gefaltet zu Hause in seine Schublade legte. Irgendwie gab mir dies das Gefühl, dass ich mich noch um ihn kümmerte, auch wenn ich ihn bald verlassen würde. Das war so ziemlich das erste Mal, dass ich mich wie eine richtige Ehefrau verhielt, und ich dachte ein paar Augenblicke darüber nach, wie unser gemeinsames Leben hätte aussehen können. In einer anderen Welt. Aber für das alles war es jetzt zu spät: Ich wusste, dass ich meine Rutschpartie in den Tod bereits angetreten hatte, und irgendwie schien es nicht mehr in meiner Macht zu stehen, nun noch etwas daran zu ändern.
    Charlie und ich verbrachten einen ruhigen Abend zusammen, und ich ging früh zu Bett, weil ich wollte, dass der Morgen möglichst schnell kam.
    Ich stand kurz davor, eine lange Reise anzutreten, und ich wollte, dass das Warten ein Ende hatte und ich aufbrechen konnte. Ich schlief lange und tief, und als ich aufwachte, war Charlie schon weg. Nun hatten wir uns nicht mal verabschiedet, aber das machte nichts. Wie verabschiedet man sich in so einem Fall? Am besten, man hebt nur kurz die Hand und geht dann ganz schnell, ohne sich noch mal umzublicken.
    Ich stand auf, stellte mich unter die Dusche und wusch mir das Haar. Dann schlüpfte ich in bequeme, frisch gewaschene Sachen. Mir war bewusst, dass ich alles verdrängte, worüber man in einer solchen Situation nicht nachdenken durfte. Ich war dabei, auf einem schmalen Brett einen tiefen Abgrund zu überqueren. Wenn ich weder an die Tiefe unter mir noch an das schmale Stück Holz unter meinen Füßen dachte, würde ich es auf die andere Seite schaffen. Ließ ich jedoch die Tiefe des Abgrunds und die Schmalheit des Bretts in mein Bewusstsein dringen, würde ich fallen.
    Ich ertappte mich dabei, wie ich das Bett machte, und hielt einen Moment inne, weil mir bewusst wurde, wie absurd das war, aber dann machte ich doch weiter, strich die Decke schön glatt. Um alles andere würden sich andere Leute kümmern müssen.
    Ich durfte nicht innehalten und zu denken anfangen. Nachdem ich einen Karton Orangensaft und einen halb vollen Karton Apfelsaft aus dem Kühlschrank geholt hatte, stellte ich beide zusammen mit einem großen Glas auf den Küchentisch. Dann ging ich ins Bad. Ich besaß Medikamente für mehr als drei Wochen. Das war bestimmt genug. Nun befand ich mich schon ganz nah am Rand. Schwankte. Wieder einmal musste ich daran denken, wie ich als kleines Mädchen auf Mauern oder Klettergerüste gestiegen war, während mein Vater mit ausgebreiteten Armen unter mir stand und »Spring!« rief. »Spring nur, ich fange dich!« Oft versuchte er mir Angst einzujagen, indem er zum Spaß die Arme sinken ließ, als wollte er mich fallen lassen, was er natürlich nicht tat. Seltsam war aber, dass ich mich beim besten Willen nicht an sein Gesicht erinnern konnte, sosehr ich es auch versuchte, und an das von Charlie auch nicht. Nur das von Meg sah ich noch genau vor mir.
    Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass Meg diejenige war, die am meisten unter meinem Vorhaben leiden und

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