Der Feind in deiner Nähe
wirklich mögen. Die Fragen gingen endlos weiter. Nachdem er abschließend noch einen Blick auf ihre Zunge geworfen und ihren Puls gemessen hatte, fragte er sie, ob sie Stimmen gehört oder seltsame Dinge gesehen habe. Holly sah mich einen Moment hilfesuchend an, als hätte sie plötzlich Angst, wandte sich dann aber wieder Dr. Thorne zu.
»Vielleicht«, murmelte sie. »Woher weiß man, ob die Stimmen und die Gesichter im eigenen Kopf oder draußen sind?«
»Hatten Sie Angst?«
»Ja.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Sehr sogar. Ich hatte Angst davor, verrückt zu sein. Als ich im Sterben lag, dachte ich …«
»Was dachten Sie?«
»Ich hatte das Gefühl, dass mich jemand beobachtete.«
»Ich glaube, das kommt häufiger vor.«
»Ich habe zwei Schuhe gesehen …«
Und so ging es endlos weiter. Es erschien mir irgendwie nicht richtig, dass ich mich mit im Raum befand, während er ihr seine Fragen stellte und sie ihre Antworten murmelte. Es war, als würde dadurch eine Schicht nach der anderen freigelegt, bis wir schließlich bei den offenen Wunden angelangt waren. Ich verhielt mich mucksmäuschenstill, hatte jedoch das Gefühl, den penetranten, süßlichen Geruch der Lilien nicht mehr lange ertragen zu können.
»Wäre es Ihnen lieber gewesen, Ihr Versuch wäre erfolgreich gewesen?«, fragte er sie schließlich.
Wieder sah Holly mich an. In ihrem Blick lag ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. Er kam mir fast ein wenig ver-schmitzt vor.
»Nein«, antwortete sie nach einer Weile. »Ich glaube, ich möchte leben.«
28
Trotz allem war ich glücklich, so glücklich wie schon seit Jahren nicht mehr. Manchmal hatte ich deswegen fast ein schlechtes Gewissen, aber ich konnte es auch nicht ändern. Jeden Morgen, wenn ich aufwachte und Todd neben mir sah, machte mein Herz vor Freude einen Satz. Alles, was mich früher in der Arbeit frustriert hatte, erschien mir jetzt kinderleicht. Dinge, die mir immer langweilig vorgekommen waren, fand ich plötzlich hochinteressant. Ich war von einer ganz neuen Energie und Begeisterung erfüllt. Ich war verliebt.
Manchmal schlief ich bei ihm, und manchmal übernachtete er bei mir. Unsere Wohnungen waren wie Tatorte, an denen wir eindeutige Beweise für unsere Anwesenheit hinterlassen hatten: Zahnbürsten, Unterwäsche, Kosmetika, Shirts, Blusen, Ta-schenbücher. Es kam jetzt öfter vor, dass ich zu Hause etwas suchte, bis mir plötzlich einfiel, dass es bei Todd war. Es machte mir Spaß, nie genau zu wissen, wo ich am Ende des Tages landen würde. Unsere Beziehung war ein risikoloses Abenteuer.
Ich wusste, dass es nie wieder ganz so sein würde wie jetzt, egal, was zwischen uns passierte. Falls es so weiterging, wie ich es mir wünschte, würden wir vielleicht irgendwann einen Punkt erreichen, an dem wir – jetzt noch völlig unvorstellbar – nicht mehr ständig aneinander dachten und auch mal ein paar Tage ohne Sex auskamen, weil der andere einem so vertraut war, dass er sozusagen zum Inventar gehörte. Aber im Moment waren wir noch unglaublich neugierig aufeinander. Todd war ein Labyrinth, in dem ich herumwandern wollte, ein Rätsel, das es zu lösen galt, eine Art magische Überraschungsreise. Wir sprachen über unser Leben, unsere Arbeit, frühere Beziehungen, was schief gelaufen und was gut gewesen war. Wir verrieten einander Geheimnisse.
Jeder Tag kam mir erschreckend kurz vor. Wie immer es weiterginge, diese Intensität und Energie würde auf jeden Fall nachlassen. Das musste zwangsläufig geschehen, damit wir irgendwann wieder normale Menschen werden konnten, ein normales Paar oder vielleicht auch nur Freunde.
Nun aber hatte Holly Vorrang. Während wir in Todds Wohnung frühstückten, erklärte ich ihm, dass ich mich an diesem Abend erst später mit ihm treffen könne, weil ich vorher bei Holly vorbeischauen müsse. Er nickte.
»Das alles wird ziemlich viel Zeit in Anspruch nehmen.«
»Natürlich.«
»Ich verstehe es, wenn dich das nervt.«
»Es nervt mich nicht.«
»Ich weiß, dass deine erste Begegnung mit Holly kein großer Erfolg war …«
»Damit meinst du wohl, dass ich kein großer Erfolg war, oder?«
»Es war nicht deine Schuld. Um es mal vorsichtig auszudrü-
cken.«
»Findest du nicht, dass du für eine beste Freundin ein bisschen zu viel Angst vor ihr hast?«
Darüber musste ich erst mal nachdenken. »Holly hat schon immer ziemlich viel Aufmerksamkeit erfordert«, antwortete ich.
»In emotionaler Hinsicht, meine ich. Sie war es
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