Der Feind in deiner Nähe
»Schlaf jetzt ein bisschen.«
»Meg?«
»Was?«
»Jetzt bin ich aber froh.«
»Das ist gut.«
»Ich bin wirklich, wirklich froh …«
Ihre Lippen öffneten sich ein wenig, und ihr Atem wurde ruhiger. Ihre Augen zuckten unter den Lidern. Sie träumte.
Auf dem Flur kam mir Charlie entgegen. Er hatte einen küm-merlichen Strauß gelbe Nelken in der Hand, den er wohl unten im Krankenhauskiosk erstanden hatte. Obwohl er sich an diesem Morgen offensichtlich rasiert und sein sonst häufig ungekämmtes Haar gebürstet hatte, wirkte sein Gang unsicher, irgendwie angeschlagen. Sein Blick war auf den Boden gerichtet, und er runzelte die Stirn. Er schien ganz in seiner eigenen Welt gefangen zu sein.
»Charlie«, sagte ich.
Er blieb stehen und sah mich an, aber mir schien, als würde er durch mich hindurch auf etwas anderes starren.
»Ich war gerade bei ihr. Sie schläft wieder.«
»Das geht schon die ganze Zeit so«, sagte er. »Sie wacht auf, und man hat den Eindruck, dass sie gar nicht richtig da ist, aber dann fängt sie plötzlich an zu reden, und nach einer Weile wird sie davon so müde, dass sie wieder einschläft.«
»Sie fühlt sich schuldig.«
»Sie fühlt eine ganze Menge.«
Das Gespräch war mir unangenehm. Ich wollte nicht mit ihm darum wetteifern, wer am besten wusste, was Holly fühlte oder dachte. »Es wird ihr bald wieder besser gehen, Charlie.«
»Vielleicht«, antwortete er dumpf. »Zumindest für eine Weile.«
»Du hättest nicht mehr tun können, als du sowieso getan hast.«
»Oh, Meg«, sagte er und sah mir dabei zum ersten Mal in die Augen. »Natürlich hätte ich mehr tun können. Ich habe sie allein gelassen. Ich hätte es wissen müssen.«
»Du kannst nicht rund um die Uhr bei ihr sein.«
Er zuckte nur mit den Achseln und steckte sein Gesicht in die Nelken. »Ich rufe dich an.«
»Ich schau heute Abend nach der Arbeit noch einmal vorbei.«
»Danke.«
»Sieh zu, dass du ein bisschen Schlaf kriegst, sonst wirst du auch noch krank, und damit wäre wirklich niemandem geholfen.«
»Ja«, antwortete er, ohne es wirklich zu meinen.
Ich fuhr abends um sieben noch einmal in die Klinik, aber es waren zu viele Leute da, die Holly sehen wollten. Charlie, der ein frisches Jeanshemd trug. Mein Cousin Luke. Naomi, die zu viel blauen Lidschatten aufgelegt hatte. Zu meinem Entsetzen entdeckte ich außerdem auch noch Hollys Mutter. Sie saß mit kerzengeradem Rücken und einem verhärmten Gesichtsausdruck am Bett ihrer Tochter und hielt deren Hand, als handelte es sich dabei um einen unliebsamen Gegenstand, den jemand für ein paar Minuten ihrer Obhut anvertraut hatte. Holly lag wie eine Leiche zwischen ihnen. Auf dem Tisch neben ihr stand ein Plastikkrug mit stark duftenden Lilien. War ich die Einzige, die merkte, dass sie nur so tat, als würde sie schlafen?
*
Am nächsten Tag saß ich gerade neben ihrem Bett, als Dr. Thorne kam, ein großer, spindeldürrer Mann mit einem dünnen Hals und klugen, grauen Augen. Er sah ein bisschen aus wie ein Storch und war mir sofort sympathisch. Ich stand auf, um zu gehen.
»Geh nicht«, sagte Holly.
»Aber ich –«
»Bleib.«
Also blieb ich. Nachdem Dr. Thorne einen Blick auf das Krankenblatt geworfen hatte, zog er sich ebenfalls einen Stuhl heran und stellte ihr eine ganze Reihe von Fragen, die Holly größtenteils sehr kurz und mit leiser, gedämpfter Stimme beantwortete. Warum hatte sie ihre Medikamente abgesetzt?
Wie lange hatte sie das schon geplant? Was genau hatte sie zu dem Ergebnis kommen lassen, dass sie es nicht mehr ertragen konnte weiterzuleben? Was war der Auslöser gewesen? Hatte sie früher schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen, oder mit dem Gedanken gespielt, es zu versuchen? Woher kamen die Schnitte an ihren Armen? Wie war ihre Stimmung in der Zeit vor ihrem Selbstmordversuch gewesen? Dr. Thorne forderte sie auf, ihrer Gemütsverfassung eine Farbe zu geben.
Holly überlegte einen Moment und sagte dann: »Kastanien-braun.« Wie viele Tabletten hatte sie genommen? War ihr, nachdem sie sie geschluckt hatte, klar geworden, dass sie doch weiterleben wollte? Wie fühlte sie sich jetzt? Konnte sie ihre Gefühle beschreiben? Er bat sie, ihre gegenwärtige Stimmung auf einer Skala einzuordnen, auf der die Eins der negativsten und die Zehn der positivsten Gemütslage entsprach. In Hollys Augen blitzte etwas von ihrem alten Schalk auf. »Drei zwei Fünftel«, antwortete sie, woraufhin Dr. Thorne sie anlächelte, als würde er sie
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