Der Feind meines Vaters - Roman
schön oder grausam. Ich wusste es nicht, aber auch ich betrachtete sie, als könnte ich durch sie hindurchsehen, und ich sah ihr Dorf in Almería, die weißen Häuser, meine verwaisten Cousins, deren Mütter in Schwarz, ich sah den Mann, der froh war, dass er nicht mein Vater war, und meinen Großvater, Manuel el Carajita, wie er auf seinem Akkordeon spielte, in einem weißen Hemd, auf dem sich ein roter Fleck ausbreitete. Anfangs war er schön wie eine Blüte, aber kurz darauf färbte er alles rot, die Kleidung, die Tasten, sein Gesicht, meine Vorstellungskraft und mein Bewusstsein. All das konnte ich sehen, einen riesigen roten Blutfleck, die rauchenden Gewehre, die Kälte des Morgengrauens, die eiligen Schritte der Frauen, die zu den Friedhöfen liefen, all das sah ich in meiner Mutter. Ich sah sie, die damals sechsunddreißig war und mir sehr alt vorkam, ich sah sie so, als wäre sie viel jünger, ein verlassenes Mädchen, schutzlos, ein einsames Mädchen, das weinte, ohne zu wissen, weshalb, als brauchte sie keinen konkreten Grund, um zu weinen, oder als hätte sie so viele, dass sie nicht wusste, welchen sie behalten sollte, bis sie den Blick von dem Kalender nahm, mich ansah und dann den Leutnant.
»Lassen Sie mich mit ihm gehen.« Ihre Stimme klang nun wie das eines erschrockenen Mädchens, das in eine Falle gestolpert war, aus der es kein Entkommen gab.
»Nein.« Michelins Stimme war wieder sanft, der verständnisvolle Ton widerlich. »Ihr würdet auffallen. Und wenn euch jemand sehen würde, wäre es schlimmer für euch, viel gefährlicher. Hör auf mich, Mercedes, ich weiß, was ich sage.«
Damit legte er ihr die Hand auf die Schulter.
»Rühren Sie mich nicht an.«
Mutter schüttelte sich, stand auf und drückte mich an sich.
»Zieh dich an, Nino.«
Wir gingen langsam auf mein Zimmer zu, er folgte einige Schritte, wagte aber nicht einzutreten, weil plötzlich meine Schwester Dulce mit Tränen in den Augen in der Tür stand, obwohl wir uns nie besonders vertragen hatten. Als ich an ihr vorbeiging, nahm ich ihre Hand, und sie drückte sie, doch am meisten bewegte mich Pepa, die auf dem Bett saß und hemmungslos schluchzte.
»Und du? Wieso weinst du denn?« Ich setzte mich neben sie.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie wie immer, während ihr der Rotz aus der Nase lief.
»Wenn du es nicht weißt, kannst du auch aufhören, Pepica.« Ich zog sie an mich, drückte sie ganz fest, und dann kitzelte ich sie so lange, bis sie wieder lachte. »Los, du Dummchen, schlaf jetzt endlich.«
Ich sammelte meine Sachen zusammen und spürte, dass ich mich beeilen musste, denn sonst würde auch ich noch losheulen, nicht aus Angst, sondern vor Kummer, aus einer dunklen Trauer heraus, die genauso schwarz war wie das Licht in den Augen meiner Mutter. Doch ich durfte nicht weinen, es würde nichts bringen, meine Tränen hätten nicht die Kraft, so viel Gewalt aufzuhalten, sie könnten uns diese Erniedrigung nicht ersparen. Es war eine Folter, schlimmer als Schläge, die Trauer in diesem Zimmer mit den kahlen Wänden, mein im Schrank verborgenes Diplom und die namenlose Angst meiner Schwester Pepa. Ein beschissenes Leben, dem keiner von uns entkommen konnte.
Wir nicht, aber sie, dachte ich und sah den Leutnant an, der mich durch die Tür beobachtete. Und hätte ich in dieser Nacht nicht endlich begriffen, wie Vater Pesetilla hinterrücks hatte erschießen können, hätte das exakte Ausmaß der Gewalt, Erniedrigung und Trauer nicht durchschaut, denen wir alle ausgesetzt waren, die in der Kaserne und die im Dorf, die in meinem Haus und auch alle anderen, hätte nicht verstanden, wo der Ursprung dieses Terrors lag, der sich von oben nach unten ausbreitete und wie ein tückischer Virus, der alles und jeden ansteckte, jede Handlung und jeden Gedanken manipulierte, ich glaube, ich hätte sogar Mitleid mit diesem Mann empfinden können. Seine Uniform spannte sich über den Bauch, die Knöpfe drohten jeden Moment abzuspringen, das spärliche Haar war zerzaust, die Haut mit einem Schweißfilm bedeckt, und dazu dieser verlorene Blick eines Feiglings, der nur deshalb so grausam, unbeholfen und schäbig ist, weil er so feige ist.
So kann man nicht leben, sagte Mutter, aber so lebten wir, so lebte sie, so lebte ich, mein Vater und meine Schwestern, so lebten alle, die es nicht gewagt hatten, in die Berge zu gehen, um dort wie Tiere zu überleben, ja, aber mit ihren eigenen menschlichen Gesetzen. Wir konnten nicht entkommen, weil
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