Der Feind meines Vaters - Roman
wir jenes beschissene Leben akzeptiert hatten, wir hatten die Köpfe gesenkt und uns dieser endlosen Gewalt unterworfen; wir hatten uns daran gewöhnt, Tag für Tag die Erniedrigungen und die Trauer zu ertragen. Sie hingegen hatten eine Chance. Ich dachte an Joaquín Fingenegocios, denn sie werden gehen, sie müssen gehen, verflucht nochmal, und ich begriff, dass wir denselben Feind hatten: den Mann, der meine Mutter zum Weinen brachte. Joaquín hatte durchgehalten, er hatte Vida aufgefordert, den Kopf zu erheben, so wie er selbst, er war seinen Weg gegangen, trotz des Schmerzes, trotz der Qualen, und sie hatten ihn nicht brechen können. Mich aber würde niemand anrühren. Ich würde nicht flüchten können, im Gegensatz zu ihnen. So gelang es mir, mich zu beruhigen, die Gewalt, Erniedrigung und Trauer im Zaum zu halten und nicht zu weinen.
»Einen Moment noch«, sagte ich an den Leutnant gewandt, und er nickte. »Ich bin gleich so weit.«
Auch Mutter warf ihm einen Blick zu, trat dann zu mir und murmelte:
»Du gehst nirgendwohin, hörst du, Nino? Du bleibst im Dorf. Geh ein bisschen durch die Straßen, versteck dich irgendwo, warte eine halbe Stunde und komm zurück. Ich lasse das Fenster im Kinderzimmer auf, und …«
»Nein, Mutter«, flüsterte ich, während ich mich im Schutz ihres Körpers anzog. »Ich muss sie suchen. Wenn ich im Dorf bleibe, wird es noch schlimmer sein, und viel gefährlicher. Dann könnte mir wirklich etwas zustoßen, aber mach dir keine Sorgen. Ich schaffe das schon, Mutter, ich habe an alles gedacht.«
»Du sollst nicht denken.« Sie packte mich an den Handgelenken und drückte sie fest. »Denk nicht, Nino, tu nichts …«
»Nein, Mutter, ich weiß, was ich tun muss. Sieh mal …« Ich nahm Die Schatzinsel vom Nachttisch und reichte sie ihr. »Lies das, lies dieses Buch. Dann wirst du wissen, dass mir nichts zustoßen kann. Ich bin Long John Silvers Freund. Long John ist mein Freund, Mutter, und alle wissen es.«
»Was redest du da, Nino?« Mutter achtete nicht auf das Buch, das ich ihr in die Hand gedrückt hatte, sondern sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
»Du verstehst es nicht, weil du das Buch nicht kennst. Lies es, bitte. In Fuensanta de Martos haben wir auch einen Long John Silver, und keiner weiß es. Alle vertrauen ihm, aber er gehört zu den anderen, den Piraten, Mutter, obwohl er nicht böse ist. Er ist gut und passt auf mich auf. Er wird dafür sorgen, dass mir niemand etwas antut, die in den Bergen werden mir kein Haar krümmen.«
»Red keinen Unsinn, Nino, mein Sohn …«
»Bist du so weit, Nino?« Michelins Stimme unterbrach unser Geflüster.
»Ja«, antwortete ich und küsste Mutter auf die Lippen, so wie damals, als ich klein war. »Ich komme.«
Ich versuchte, mich nicht umzusehen, doch noch ehe ich die Tür erreichte, hörte ich das Echo einer Klage, das unkontrollierte, schamlose Schluchzen einer schwangeren Frau, die auf dem Bett saß und weinte, während sie ein Buch mit einem blauen Umschlag an die Brust drückte, und ich wusste mir plötzlich nicht anders zu helfen.
»Geh zu ihr, sag ihr, dass sie sich keine Sorgen machen soll«, sagte ich zu meiner Schwester, als ich an ihr vorbeiging, obwohl ich wusste, dass Mutter nicht nur wegen mir weinte, sondern wegen der ganzen Situation, die auch mich um ein Haar in Tränen ausbrechen ließ. »Mir wird nichts passieren, Dulce, ich schwöre es.«
Der Leutnant versuchte, mir die Hand auf die Schulter zu legen, doch ich wich ihm rechtzeitig aus und hielt die Tür so lange auf, bis er vor mir das Haus verlassen hatte. Dann ging ich ohne ein Wort los.
Jim Hawkins hatte die Hispaniola ganz allein befreit, sagte ich mir, als ich die Kaserne aus den Augen verlor. Er war allein auf das Schiff geklettert, hatte ein paar abtrünnige Matrosen überwältigt und den Schoner in Sicherheit gebracht. Es war nach elf, und in den Straßen meines Dorfes war niemand mehr unterwegs, doch die Kneipen hatten noch auf, deshalb machte ich vorsichtshalber einen weiten Bogen um sie. Dasselbe hat Hawkins auf einer Insel voller gewalttätiger, bis an die Zähne bewaffneter Piraten getan, dachte ich, als mit einem Mal alle Straßenlampen gleichzeitig erloschen, noch ehe ich das letzte Haus des Dorfes hinter mir gelassen hatte. Und wenn er das konnte – ich hatte nicht einmal daran gedacht, eine Taschenlampe mitzunehmen, aber es gab ja den Mond –, würde ich es allemal schaffen, bis zur Kreuzung zu kommen. Ich kannte ja
Weitere Kostenlose Bücher