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Der Feind meines Vaters - Roman

Der Feind meines Vaters - Roman

Titel: Der Feind meines Vaters - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Almudena Grandes
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den Weg wie meine Westentasche, selbst mit verbundenen Augen hätte ich dorthin gefunden. Na los, Mann!
    In diesem Moment – ich dachte gerade, dass Doña Elena Gott sei Dank nur fünfzehn von Jules Vernes Büchern besaß und nicht die Gesammelten Werke, weil ich sonst wahrscheinlich nicht dazu gekommen wäre, rechtzeitig Stevenson zu lesen, wurde mir auf einmal meine Situation bewusst: Was hier vor sich ging, war kein Buch, sondern die Realität einer Aprilnacht im Spanien des Jahres 1949, in einem andalusischen Dorf namens Fuensanta de Martos. In den Bergen ringsum lebten Widerstandskämpfer, bewaffnete Männer, die in Gruppen von zwei oder drei leise unterwegs waren und einem Weg folgten, den sie selbst kaum kannten. Erst da begriff ich, dass ich in einem anderen Buch lebte. In Benito Pérez Galdós’ Der 19. März und der 2. Mai , in einem schmutzigen Krieg zwischen schlechtbewaffneten Zivilisten und berittenen Mamelucken, und ich rannte los und dachte an nichts mehr. Ich rannte und rannte und hörte nicht mehr auf. Ich rannte so schnell, dass ich nicht mehr als sechs oder sieben Minuten brauchte, bis ich oben auf dem Hang die Umrisse des Jeeps erkannte und daneben das schwache Glimmen einer brennenden Zigarette.
    Ich hielt am Wegesrand an, beugte mich vornüber, um wieder zu Atem zu kommen, und als ich mich umsah, entdeckte ich, dass man auch allein, ohne Zeugen, vor Scham vergehen kann. Es war Nacht, und ich hatte keine Taschenlampe dabei, doch ich kannte jeden Stein, jeden Strauch, jeden Baum, ich hätte sie so genau beschreiben können, als wäre es Tag und der Portugiese säße auf einem Felsen und wartete auf mich. Ich wusste zwar nicht genau, was mich dazu gebracht hatte, so zu rennen, denn ich hatte weder etwas Gefährliches gesehen noch etwas Bedrohliches gehört und war niemandem begegnet, aber ich spürte, dass Angst dahinterstand. In Gedanken hatte ich mir das alles schon einmal ausgemalt, aber ich hätte nie gedacht, dass die Realität meine Phantasie dermaßen übertreffen würde. Trotzdem verwandelte sich in diesem Augenblick die Scham in Selbstsicherheit, schließlich war ich noch ein Kind, erst elf, und hatte mir mit meiner eigenen Intelligenz soeben bestätigt, wie stark die Nacht, die Einsamkeit und die Berge elfjährige Jungen erschrecken können, und sie werden nervös, vergessen, was sie wissen, werden unsicher, verwechseln Dinge oder irren sich.
    Mutter hatte mich angefleht, nicht zu denken, dennoch hatte ich nicht aufgehört zu denken, seit Michelin mich um diesen Gefallen gebeten hatte, der eigentlich ein Befehl war. Mein erster Gedanke deckte sich mit dem, was sie mir aufgetragen hatte, einen Spaziergang machen, mich verstecken und anschließend nach Hause zurückkehren, ohne irgendwem Bescheid zu geben, doch mir wurde gleich klar, dass das keine gute Idee war. In einer Nacht wie dieser würden sich die Dorfbewohner, die etwas mit den Widerstandskämpfern in den Bergen zu tun hatten, wahrscheinlich in ihren Häusern einschließen, die Daumen drücken und darauf warten, dass es Tag wurde, aber diejenigen, die keine Ahnung hatten, würden ihr normales Leben führen und der erstbeste Ehebrecher, ein Betrunkener, jemand, auf den niemand wartete oder der etwas im verborgenen zu erledigen hatte, könnte mich sehen und es am nächsten Tag überall ausplaudern. Das Dorf war klein. Die einzigen sicheren Verstecke, die mir einfielen, lagen alle am Fuß der Berge und waren nicht ungefährlicher als die Kreuzung, und wenn ich Vater in dieser Nacht nicht warnte, würden wir alle teuer bezahlen, er, Mutter, meine Schwestern und ich, denn der Leutnant würde es spätestens dann erfahren, wenn Vater in die Kaserne zurückkehrte. Auch ich kannte dieses Gesetz 12 von 1940; jeder, der in einer Kaserne lebte, kannte es. Außerdem wollte ich nicht, dass Paquito überall herumerzählte, ich sei ein Feigling, und was am allerwichtigsten war, wenn ich im Dorf blieb, würde ich nur die Pläne des Leutnants durchkreuzen.
    Doch ich konnte viel mehr tun; das hatte ich bereits überlegt, bevor Mutter ihren Ratschlag gegeben hatte, bevor mir Jim Hawkins’ einsames Abenteuer eingefallen war und ich mich allein im Dunkeln wiederfand, weit entfernt vom letzten Haus, als meine Beine beschlossen hatten, auf Pepes theoretischen Schutz zu verzichten, und von allein losgerannt waren. Ich kannte mich in den Bergen aus. Zwar hatte ich keine Ahnung, wie Cencerro flüchten wollte, doch ich wusste genau, wie er es auf keinen

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