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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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schmaler Lichtstreifen. Er ging noch schneller und erreichte die Lifttür, die Kabine wartete noch, er stieg ein und drückte auf den untersten Knopf.
    Er trat auf die Straße. Wind war aufgekommen, Wolken zogen schnell und sich verformend vorbei, ein Räumfahrzeug ließ eine Spur von Salz und Kieselsteinen hinter sich.
    Auf der Rolltreppe zur U-Bahn wäre er fast ausgerutscht. Von einem Plakat über dem Bahnsteig blickte das Gesicht einer Frau: längliche Augen, geschwungene Lippen, eine rote Haarsträhne, die sich auf ihrer Stirn kräuselte; unwillkürlich wich er ihrem Blick aus. Er sah in das Schwarz des Schachtes, schon nahm ein Zug Gestalt an: Lichtreflexe liefen an den Schienensträngen entlang, dann formten sich die Scheinwerfer und eine Scheibeund das gähnende Gesicht des Fahrers. Julian stieg ein.
    Vor dem Fenster raste die Dunkelheit vorbei, unter seinen Füßen vibrierte der Boden, ihm gegenüber saß ein Junge von etwa zehn Jahren und betrachtete ihn ernst und neugierig. Zwei runde Brillengläser vergrößerten seine Augen.
    »Geht es Ihnen gut?«
    »Ja«, sagte Julian, »warum?«
    Der Junge sah ihn mit offenem Mund an und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Wohin jetzt?«
    »Was?«
    »Wohin Sie fahren.«
    »Zu meinem Vater«, sagte Julian.
    »Gut«, sagte der Junge. »Sehr gut!«
    Julian wollte fragen, was er damit meinte, aber schon hielt der Zug, und er mußte aussteigen. Eine lange Rolltreppe brachte ihn auf die Straße. Eine graue Fassade, darin ein Muster heller Fenster. Ein Polizist machte hektische Zeichen mit einer Kelle. Die Eingangstür öffnete sich vor ihm, in der Halle hing der scharfe Geruch chemischer Sauberkeit. Der Mann in der Portiersloge beachtete ihn nicht, zwei Ärzte in weißen Kitteln sprachen leise undwütend miteinander. Er ging langsam die Treppe hinauf. Die Stufen waren niedrig und ausgetreten. Eine alte Frau kam ihm in Sandalen und einem Frotteemantel entgegen, blieb stehen und sah ihn glasig an. Er wich ihrem Blick aus und ging schnell weiter.
    Die Treppe endete auf einem fensterlosen Gang, erhellt von weißen Neonröhren, eine davon war defekt und ging mit leisen Knacklauten an und aus, an und aus. In einem Papierkorb lagen zerknüllte Tücher. Auf einem Plakat war ein vielbeiniges Tierchen unter der Aufschrift RECHTZEITIG IMPFEN gemalt. Zunächst fiel ihm die Zimmernummer nicht ein; aber da entstand sie schon aus der Tiefe seines Gedächtnisses: Einhundertsieben. Er blieb stehen, legte die Hand auf die Klinke, zögerte. Wie lange war er nicht hier gewesen? Er zuckte die Achseln und trat ein.
    Zwei Betten, ein Kleiderschrank, ein Tisch und zwei metallene Stühle. Ein Fernseher auf einem schiefen Gestell in der Wand, ein Glas Wasser auf dem Nachttisch. Auch ein Teller mit einem flachen Stück Kuchen und einem Apfel. Das eine Bett war leer, in dem anderen lag ein alter Mann.
    Er hatte die Decke bis zum Kinn hochgezogen,seine Hände drückten sich dünn, fast durchsichtig auf das Laken. Sein Hals war faltig, sein Kinn überzogen mit winzigen Schnitten, ein Zeichen, daß fremde Hände ihn rasiert hatten. Seine Augen richteten sich einen Moment lang auf Julian, aber sie schienen etwas anderes zu sehen oder nichts. Julian wollte einen Stuhl heranziehen, aber dann tat er es doch nicht.
    »Ich weiß«, sagte Julian, »daß ich lange nicht hier war. Ich weiß nicht, warum. Ich wollte dir nur sagen, daß … ich gehe.«
    Er wartete. Aber es kam keine Antwort; der alte Mann atmete ein, ein leise pfeifendes Geräusch, seine Wangen sahen hohl aus, selbst seine Nase war dünner als früher. Wie hatte er nur so klein werden können?
    »Man wird dir sagen, daß ich tot bin«, sagte Julian, »aber das stimmt nicht. Ich mache genau das, was du gemacht hast. Aber ich mache es nicht wie du.«
    Plötzlich hatte er Durst. Sein Blick fiel auf das Glas, und sofort ekelte es ihn so sehr davor, daß er über sich selbst erschrak. Er sah auf den Teller mit dem Kuchen und dem Apfel; wer mochte ihn dorthin gestellt haben und wozu? Julian versuchte sichan den Mann zu erinnern, den er morgens hatte weggehen und abends zurückkommen sehen: an seine breite und immer etwas schiefe Gestalt, den Geruch seines Rasierwassers morgens im Badezimmer, die zerkratzte Aktentasche, die man nicht hatte berühren dürfen, und wie seine Stimme hoch und zittrig werden konnte, wenn er schrie. Einmal hatte Julian ihn im Büro besucht. Er hatte hinter einem Schreibtisch mit einem Telefon und sehr viel Papier gesessen,

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