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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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Sie und ich. Diesen Herbst. Kleine Tagung, nichts Wichtiges, beinahe Ferien.« Julian brauchte ein paar Sekunden, um den Mund zu einer Antwort zu öffnen, aber da war Wöllner schon weitergegangen.
    Später, auf der Straße, verabschiedete er sich von Andrea. Sie stand neben ihrem Auto, ihre Augen waren schmal vor Müdigkeit, und auf einmal erschien sie ihm wieder fremdartig und schön. Er erzählte ihr von dem Gespräch mit Mahlhorn.
    »Du wirst es nie lernen«, sagte sie, »nicht wahr?«
    Er starrte sie an. »Was?«
    »Du wirst es nie lernen«, wiederholte sie.
    Er wartete, aber sie sagte nichts mehr. Sie nickte ihm zu, stieg in ihren Wagen, ließ den Motor an und fuhr los. Er blickte ihr nach; und als sie schonlange nicht mehr zu sehen war, stand er immer noch da. Er schlug seinen Kragen hoch und lehnte sich an den Gartenzaun. Er hatte Kopfschmerzen, und der Zaun fühlte sich hart an. Aber nach einer Weile hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Er nahm die Brille ab und steckte sie in die Tasche. Auf einmal, ganz ohne Grund, war ihm, als könnte alles noch gut werden.

V
    »Ein Verschwundener wird erst nach acht Jahren für tot erklärt. Ich hoffe, du weißt das.«
    »Ich bin nicht verschwunden, sondern ertrunken. Die Beweise sind eindeutig.«
    »Ganz egal. Ohne Leiche: acht Jahre.«
    »Es geht schneller, wenn mein nächster Verwandter unterschreibt.«
    »Wer ist das?«
    Julian antwortete nicht.
    »Ach so.« Paul saß da, zurückgelehnt und doch gerade, er sah Julian starr, ohne zu blinzeln an. »Aber im Ernst, Julian, was soll das?«
    »Du weißt, daß man nur ein Leben hat. Jeder weiß das. Es ist so ziemlich das erste, was einem gesagt wird.«
    »Und?«
    »Ich bekomme noch eines.«
    Paul schüttelte den Kopf. »Sogar wenn das stimmen würde, würde es nicht stimmen. Du denkst, du könntest etwas anderes sein. Aber was du auch tust, der junge Mann mit den schlechten Augen,der ein schlechtes Buch über einen vergessenen Barockdenker geschrieben hat und schuld an Mamas Tod ist, bleibst du immer.«
    »Wenn ich daran schuld bin«, sagte Julian leise, »dann bist du es auch.«
    »Oh, sogar mehr als du.«
    »Das scheint dir nicht viel auszumachen!«
    »Du solltest allmählich begreifen«, sagte Paul ruhig, »wie albern deine ständigen Fluchtversuche sind. Obwohl es wirklich mutig von dir war, damals. Und dann mußte es dich gerade dorthin verschlagen, wo eine Frau vor den Zug gefallen war!«
    »Ich wußte nicht, daß es eine Frau war.«
    »Stand in der Zeitung. Es war eigentlich immer das gleiche: Du wolltest etwas anderes, und ich wollte nichts sein. Beides nicht so leicht, wie man denkt.«
    »Nichts sein? Programmierst du darum diese Spiele?«
    »Aber was bringt dich auf die Idee, daß das etwas Schlechtes ist? Im Moment zum Beispiel arbeiten wir an einem, in dem wir mittels künstlicher Intelligenz eine Raumschiffbesatzung vortäuschen, von der der Spieler langsam, nach und nach, gegen seinen Willen entdeckt, daß sie wesentlichschlechter ist, als er gedacht hat, daß sie seine Befehle falsch ausführt, aus Versehen oder mit Absicht, und eine Weile meint er noch, daß er einen Fehler gemacht hat oder daß wir einen Fehler gemacht haben. Aber dann wird ihm klar, und auf diesen Moment ist das ganze ausgerichtet, daß er von Feinden umgeben ist, daß alle ihn belogen haben, von Anfang an. Daß er nicht gewinnen kann.« Paul grinste. »Und das stimmt. Er kann es wirklich nicht.«
    »Und so etwas verkauft sich?«
    »Erstaunlich, nicht wahr? Dabei ist es schwerer zu machen, als es klingt. Wir müssen der Maschine das Lügen beibringen, dafür ist sie nicht disponiert.«
    Julian verschränkte die Arme. Er wollte nicht über Spiele reden. »Warum bist du hier?«
    »Ich bin angerufen worden. Von jemandem, der schlecht Deutsch sprach, ich glaube aus Italien. Ich weiß nicht, woher sie meine Nummer hatten. Jedenfalls sagte er, man wäre allmählich etwas in Sorge, weil du gestern nicht erschienen bist und weil sie heute morgen deine Kleider gefunden haben, deine Brille, sogar ein Handtuch, nur die Schuhe nicht …«
    »Nicht die Schuhe?«
    »Nein. Und weil niemand wußte, was das zu bedeuten hat …«
    »Warum nicht die Schuhe?«
    »Weiß ich nicht. Weil also niemand wußte …«
    »Hat sich der Rezeptionist an mich erinnert?«
    »Offenbar nicht. Weil also niemand …«
    »Hat er wirklich vergessen, daß er mich gewarnt hat?« rief Julian. »Kann man sich auf keinen verlassen? Und wer stiehlt einem Ertrunkenen

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