Der fernste Ort
die Schuhe?«
Paul schwieg einen Moment. »Weil also niemand gewußt hat, wo du bist oder wie man das erklären soll, und weil das Polizeiboot erst heute nachmittag hinausfahren kann, schließlich ist Sonntag …« Julian öffnete den Mund, Paul hob die Hand. »Kein Wort über die Schuhe! Man hat mich also gebeten, nachzusehen, ob du hier aufgetaucht bist. Falls nicht, wird eine Vermißtenanzeige aufgegeben. Was immer das bringen soll.«
»Du hast natürlich keine Angst um mich gehabt.«
Paul zuckte die Achseln.
»Und vorhin im Flur? Ich hätte ein Gespenst sein können.«
»Vielleicht bist du eines. Sag mir lieber, wohin du willst: Lateinamerika? Die Wüste? Eine Insel?«
»Nach Osten wohl. Nordosten. Angeblich verschwindet man dort am leichtesten.«
»Du brauchst einen Paß.«
»Sollte nicht so schwer sein. Willst du mitkommen?«
Julian schwieg, er war selbst erstaunt über das, was er gerade gesagt hatte. Paul sah ihn an. Auch er schien überrascht. Seine Augen waren schmal geworden, Julian spürte ein sanftes Schwindelgefühl, die Schärfe seines Blickes. »Die Frage stellt sich nicht. Du bist dort ertrunken, nicht ich.«
Julian nickte, wider Willen war er erleichtert. »Ich werde Geld brauchen.«
Paul zog seine Brieftasche hervor, nahm alle Scheine heraus und streckte sie ihm hin. »Reicht das?«
»Wahrscheinlich.« Julian steckte sie ein, ohne nachzuzählen.
»Paß gut darauf auf! Weiß du noch, daß du früher, wenn du etwas verloren hattest, immer behauptet hast, zwei schwarzgekleidete Männer hätten dich ausgeraubt? Groß und gut angezogen und sehr höflich. Niemand hat dir das je geglaubt.Aber du hattest vor nichts soviel Angst wie vor ihnen.«
»Keine Sorge!« sagte Julian, ärgerlich, weil er sich nicht erinnern konnte. Er stand auf. Paul blickte ihn müde an, als hätte das Gespräch ihn erschöpft.
»Und?« fragte Julian. »Was wirst du ihnen sagen?«
»Wem?«
»Denen, die dich geschickt haben.«
Paul sah ihn mißtrauisch an.
»Du solltest doch nachsehen, ob ich hier bin!«
Paul zuckte die Achseln. »Ich sage, daß ich ein Gespenst gesehen habe.«
»Danke!« Julian streckte seine Hand aus, Paul rührte sich nicht, er zog die Hand wieder zurück. Er sah die Bilder an, den Teppich, den Tisch, den Schrank, seinen Bruder, der mit leerem Ausdruck dasaß, vorgebeugt, die Hände auf den Armlehnen, und plötzlich fiel ihm auf, daß er nichts über ihn wußte, daß er ihn nicht besser kannte als irgendeinen entfernten Bekannten. Julian zögerte einen Moment. Dann ging er hinaus.
Aus dem Augenwinkel sah er die leere Fläche des Spiegels; er vermied es, dorthin zu blicken. Eröffnete die Tür, zog den Schlüssel ab, nahm seine Jacke vom Haken und zog sie an, während er die Treppe hinunterlief. Die Stufen stürzten vor ihm in die Tiefe, immer wieder mußte er nach dem Geländer greifen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er trat ins Freie. Es schneite jetzt stärker. Große Flocken wirbelten durch die Luft, auf dem Boden breitete sich eine Schicht von schmutzigem Weiß aus. Er klappte seinen Kragen hoch, schob die Hände in die Taschen und senkte den Kopf.
Er wich Menschen, Hydranten, Kinderwagen, einem Hund an der Leine aus, er ging schneller, ganz von selbst begann er zu laufen. Er sah die Häuser, die er kannte, die Auslage des Supermarkts, die Buchhandlung, die drei Tage lang Vetering: Person, Werk, Wirkung in der Auslage gehabt hatte; all das zum letzten Mal. Eine Ampel sprang auf Grün, er lief über die Straße, wich einem Zettelverteiler aus, sprang über eine Pfütze und sah auf. Vor ihm erhob sich eine gläserne Fassade, in der sich Himmel, Häuser und Autos spiegelten. Das war sein Arbeitsplatz. Die Versicherung.
Aber das war doch nicht möglich! Er hatte nicht gemerkt, daß er diesen Weg genommen hatte.Er wandte sich ab und wollte weglaufen. Dann stockte er. Und drehte sich wieder um.
Schließlich war heute Sonntag. Niemand ging hinein oder hinaus, niemand arbeitete darin, das ganze Haus stand leer. Und dort war die Hintertür, und niemand würde es bemerken, wenn er … Er tastete nach seinem Schlüsselbund. Nein, was für ein Unsinn! Er schüttelte den Kopf und beschloß in aller Klarheit, daß er das nicht tun, daß er auf keinen Fall dort hineingehen würde.
Die Tür öffnete sich schwerfällig, mit einem leisen Quietschen. Es roch nach Staub, Fäulnis, dem schmutzigen Halbdunkel. Er schloß die Tür hinter sich ab und ging zum Aufzug; matt leuchtend senkte sich die
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