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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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Kabine herab. Vor Aufregung biß er sich auf die Unterlippe, bis er den feinen Geschmack von Blut fühlte. Er drückte auf den Knopf für das zehnte Stockwerk, die Kabine setzte sich in Bewegung. Er lehnte sich an die Wand und atmete tief ein.
    Die Kabine hielt, und er trat hinaus. Er blickte nach rechts und nach links und wieder nach rechts. Er tastete nach dem Lichtschalter, und ein fahler elektrischer Glanz raste in beide Richtungen des Ganges.
    Er schloß die Tür seines Büros auf. Alles war an seinem Platz: der Tisch, die Ordner im Regal, die Stapel mit den Formularen, das Telefon, das immer noch umgedreht an der Wand lehnende Porträt Veterings. Eine der vier Wände war vollständig aus Glas: Man konnte auf das Geflecht von Straßen hinabsehen, über dem die hellen Punkte der Laternen schwebten, sie mußten sich gerade erst eingeschaltet haben. Menschen gingen auf den Bürgersteigen, die Flocken schwebten aus dem niedrigen Himmel; wenn man lange hinaufsah, kam es einem vor, als ob sie starr in der Luft standen und man selbst sich aufwärts bewegte. Er setzte sich und erschrak, als die Lehne des Stuhls unter ihm nachgab; fast kam es ihm unnatürlich vor, daß er noch Gewicht hatte. Er hob den Telefonhörer ab, zögerte, legte wieder auf. Es war so still, daß er das leise Geräusch hörte, mit dem die Flocken gegen die Scheibe schlugen. Er nahm den Hörer und wählte auswendig eine Nummer. Es läutete. Einmal, noch einmal. Und noch einmal. Dann knackte es, und er hörte eine Stimme: »Ja?«
    Es war Clara. Plötzlich war die Luft um ihn festgefroren, er konnte sich nicht bewegen, er hatte nicht erwartet, daß es ihn so erschrecken würde.
    »Ja?« wiederholte sie. »Hallo!« Sie schwieg. Er wartete; sie schwieg immer noch; er begriff, daß sie horchte. Er hörte seinen eigenen Herzschlag und das hohe Rauschen in der Leitung.
    »Julian«, sagte sie, »bist du das?«
    Der Tisch schien vor ihm zurückzuweichen, sein Mund öffnete sich, er wußte, daß er gleich antworten würde, er holte Luft, gleich …! Seine Hand legte sich auf die Telefongabel.
    Eine Weile hörte er dem Stottern des Besetztzeichens zu. Sein Tisch trieb langsam durch den Raum. Er stützte die Ellenbogen auf und rieb sich die Schläfen. Vielleicht hatte er sich verhört, vielleicht hatte sie doch nicht seinen Namen gesagt, vielleicht … Aber nein, es war nicht wichtig! Selbst wenn sie ihn auf irgendeine Weise erkannt hatte: Sein Anruf war der eines Geistes gewesen, eines der sinnlosen Zeichen, die Gestorbene durch die eben noch und bald schon nicht mehr durchlässige Grenze schickten. Er war tot, und nur das zählte.
    Er zog einen der Ordner aus dem Regal, schlug ihn auf, blätterte durch die in vielen Schriften bekritzelten Seiten; so viele Schicksale, und jedes hielt sich für einzig, und alle glichen einander. Erschloß den Ordner, zielte und warf ihn nach dem Papierkorb: Er öffnete sich in der Luft, streifte das Fensterglas, prallte an der Metallkante des Korbes ab, der Korb fiel um, Bälle aus zerknülltem Papier rollten heraus, der Ordner schlug zu Boden. Julian starrte ihn an, als hätte er einen Feind besiegt.
    Er nahm ein Blatt aus dem Formularstapel auf dem Tisch – nicht das oberste, eines aus der Mitte – und hielt es gegen das Licht. Ein verschlungenes Wasserzeichen leuchtete auf, die Schriftzüge waren groß und selbstbewußt und kamen ihm bekannt vor. Er riß es sorgfältig in der Mitte durch, legte die beiden Hälften aufeinander, riß sie wieder durch, legte die Hälften aufeinander und riß sie durch, noch dreimal, dann ging es nicht mehr, zuviel Papier; es mußten, überschlug er, schon vierundsechzig Blätter sein. Wie schnell Zahlen, sich selbst überlassen, sich in die Höhe schraubten! Er öffnete die Hände und ließ die Schnipsel auf den Tisch regnen. Er lachte leise. Er fragte sich, ob er verrückt war. Sinnlose Fröhlichkeit stieg in ihm auf, schwer und hell, kaum zu unterdrücken. Aber war es nicht genau das, was sie in allen Geschichten taten? Sie machten Anrufe, zerrissen Papier, übten ihre Kinderwillkür an den Lebenden und verschwandendanach für immer. Er stand auf und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, hinaus.
    Das Licht hatte sich wieder abgeschaltet. Während Julian auf die Lifttüren zuging, wich die Wand am anderen Ende des Ganges vor ihm zurück; etwas mit der Perspektive war nicht in Ordnung. Er ging schneller, am Büro Mahlhorns vorbei, der Gang dehnte sich stärker, unter Wöllners Tür lag ein

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