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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rae Carson
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abgerissener Ranken. Ich versuche, nicht hinzusehen, als ich meinen ungenügenden Schutz verlasse und die Anhöhe hinaufsteige. Meine Gewänder sind nicht so nass wie befürchtet, aber doch feucht genug, um schon bald bis auf die Knochen durchgefroren zu sein. Während ich über den
Berggrat wandere, bete ich unablässig; zwar weiß ich, dass ich leicht zu sehen bin, aber ich wage es nicht, näher an die Schluchten heranzugehen, wo ich von einer Wasserwelle mitgerissen werden könnte. Hunger nagt in meinem Bauch. Wenigstens werde ich in der nächsten Zeit keinen Mangel an Wasser leiden.
    Die Sonne steigt höher und wärmt meinen Rücken, was sehr angenehm ist. Außerdem bringt es mich auf eine Idee.
    Abrupt bleibe ich stehen und denke darüber nach. Auf dem Weg zum Heerlager von Invierne wurde mein Feuerstein beständig kälter, je näher wir der Gefahr kamen. Da ich nun in der entgegengesetzten Richtung unterwegs bin, wird er langsam wieder warm. Über die Jahre hat er sich stets erwärmt, wenn ich betete, aber auch, wenn bestimmte Menschen in meine Nähe kamen. Vielleicht kann er mich auf diese Weise in Sicherheit führen.
    Es ist anstrengend, vorsichtig einen Fuß vor den anderen zu setzen und gleichzeitig auf den Stein zu achten. Ich halte mich nach Westen, steige allmählich immer tiefer in die Täler hinab und hoffe, dass ich irgendwann stärkere Wärme spüren werde oder ein vertrautes Ziehen. Stunden vergehen, bevor ich etwas Derartiges wahrnehmen kann, und als es endlich passiert, ist es lediglich ein schwaches Zucken. Vielleicht ist es auch nur Einbildung, gesteigert von meiner verzweifelten Hoffnung. Aber als ich mich ein wenig nach rechts wende, ist es wieder da. Nur ein kleines Aufflackern von Wärme in meinem Nabel, aber dieses Gefühl ist so aufrüttelnd, dass ich mit viel Schwung eine Böschung hinunterrenne. Unten am schlammig weichen Grund der kleinen Schlucht halte ich kurz inne und mache versuchsweise
Schritte in verschiedene Richtungen, bis ich genau erkennen kann, wo das Gefühl am stärksten ist. Meine Hände zittern vor Begeisterung. Vielleicht, vielleicht werde ich doch überleben.
    Mit gesenkten Schultern marschiere ich energisch weiter und halte nur kurz an, um aus Vertiefungen in Felsen zu trinken oder mich auf den Feuerstein zu konzentrieren, und ich gehe immer weiter in die Richtung, in der ich eine Welle von Wärme verspüre. Stundenlang kämpfe ich mich voran. Aber mein wachsender Hunger und das stärker werdende Pochen der Wunde an meinem Unterarm kosten viel Kraft. Ich spüre, dass ich schwächer werde. Meine Beine vollführen die einzelnen Schritte, als wären sie aus Blei, mein Blick wird verschwommen; vielleicht habe ich Fieber. Mein Körper sehnt sich verzweifelt nach einer Pause, aber wenn ich nichts zu essen finde und die Entzündung, die meinen Arm langsam anschwellen lässt, nicht versorgt wird, dann nützt auch eine Pause nichts. Also gehe ich weiter.
    Das leise Vibrieren des Feuersteins wird stärker, und das ist gut, da mein Verstand inzwischen zu umnebelt ist, um auf allzu viel anderes zu achten. Als am Nachmittag die Sonne meinen Weg bescheint, brennend und schimmernd, kommen meine Füße allmählich ins Stolpern. Ich taumele über einen sanften Grat, eine gewundene Verwerfung ockerfarbener Erde. Etwas Dünnes, Verschlungenes verfängt sich an meinem Knöchel, und ich mache einen Satz durch die Luft. Dann pralle ich auf Geröll, erst mit der Schulter, dann mit der Hüfte. Der Aufschlag nimmt mir die Luft, als ich den Abhang hinunterrolle, und mein Blickfeld
wird klein. Das Geräusch von nachrutschendem Gestein und knackenden Knochen verebbt. Ich höre es noch, aber entfernt, mit unbestimmter Neugierde. Dann höre ich es gar nicht mehr.
     
    Meine Augenlider flattern. Licht und Schmerz schießen durch meinen Körper, scharf wie Dolche, durchdringend bis auf die Knochen. Ich stoße einen leisen Schrei aus, aber die Luft in meinen Lungen breitet sich wie Feuer in der rechten Brusthälfte aus.
    »Elisa? Bist du wach?«
    Diese Stimme! Diese geliebte Stimme! »Humberto?«
    Er lacht glücklich und küsst meine Wange, streichelt meine Stirn und sagt immer wieder meinen Namen. »Ich bin zurückgegangen, um dich zu suchen, aber ich konnte dich nirgendwo finden, und das ganze Heer war wegen irgendetwas völlig in Aufruhr, und dann hat es geregnet, und ich konnte deine Spur nicht mehr entdecken …«
    »Humberto. Ich habe so großen Hunger.« Als ich den Mund öffne, zuckt ein

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